Geschichten aus 50 Jahren als Wirtin
Den Hiltenfinger Keller hat Berta Kugelmann vor 50 Jahren von ihren Eltern übernommen. Von glücklichen Feiern bis zu tragischen Momenten hat sie dort alles erlebt
Hiltenfingen Ein Essen – fünf Mark. Das war ihr erster Eintrag im eigenen Rechnungsheft. Der Kegelclub des Landratsamts kam zum Spanferkelessen in den Hiltenfinger Keller. Fein säuberlich hatte es Berta Kugelmann in einem Heftchen notiert – vor genau 50 Jahren. „Wir hatten damals noch keine feste Kasse“, sagt sie, während sie in dem alten Büchlein blättert. Kugelmann war gerade 23 Jahre alt und frisch verheiratet, als sie das Gasthaus südlich von Schwabmünchen übernahm. Ihr Vater war krank und konnte es nicht weiterführen. Sie habe vom Misten bis zum Melken alles gelernt, um auf dem elterlichen Hof mitzuarbeiten, sagt sie. Doch dann stand das Gasthaus im Vordergrund.
„Mein Mann war mit Eifer dabei“, sagt die 73-Jährige. Gemeinsam schufteten sie, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, die seit 100 Jahren im Familienbesitz ist. Kugelmann ist mit dem Gasthaus aufgewachsen. Als junges Mädchen servierte sie die ersten Bier – damals noch für 50 Pfennig pro Halbe. Sie sah verliebte Paare Hochzeit feiern. Schwabmünchens Bürgermeister Lorenz Müller tanzte als junger Bräutigam übers Parkett ebenso wie der Europaabgeordnete Markus Ferber. „Einige haben schon wieder Silberhochzeit bei uns gefeiert“, sagt Kugelmann.
Als sie den Hiltenfinger Keller 1971 übernahm, hatten 30 Gäste Platz. Heute sind es 200. Dazu kommt das Hotel mit 17 Zimmern. Vieles hat sich verändert – die alte Kegelbahn ist einem Anbau gewichen. Die Gaststube wurde vergrößert, der Stall dahinter abgerissen.
Doch in einigen Ecken steckt Beständigkeit: Das Häuschen neben dem Biergarten, in dem früher Eis hergestellt wurde, damit das Bier im Sommer kühl blieb, steht bis heute. Auch das alte Kellergewölbe, das dem Gasthaus seinen Namen verlieh und in dem einst Bierfässer der alten Brauerei in Hiltenfingen lagerten, existiert noch.
Selbst manches Gericht schmeckt wie früher. „Das Rezept für den Eierhaber stammt von meiner Oma“, sagt Kugelmann. Die Schafkopfer, die sich seit 50 Jahren jeden Donnerstag zum Kartenspielen treffen, wissen es. Zu besonderen Anlässen bekommen sie eine große Pfanne des Kaiserschmarrns serviert. Ein Essen, das seit Jahren ganz oben auf der Speisekarte steht: in Butterschmalz gebratenes Schnitzel.
In ihren 50 Jahren als Wirtin hat Kugelmann einiges erlebt. Der wohl aufregendste Moment: Ihr Sohn wäre beinahe in der Küche zur Welt gekommen. „An diesem Mittag herrschte Hochbetrieb“, erinnert sich Kugelmann. Um halb zwölf stand sie in der Küche, eine Stunde später war ihr Sohn geboren. Ihre Schwägerin hatte sie gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus gefahren. „Mein Mann konnte nicht mit, denn die Wirtschaft war voll mit Gästen“, sagt Kugelmann. Ein weiterer Zufall: „Alle drei Kinder kamen an einem Sonntag zur Welt, wenn am meisten los war“, sagt sie.
Ein anderer Sonntag ist ihr ebenfalls in Erinnerung geblieben. Erst ergoss sich ein Tablett voller Getränke über eine Geburtstagsgesellschaft. „Ich habe meinen Fön ausgeliehen, damit sich die Gäste trocknen konnten. Einige sind zum Umziehen nach Hause gefahren“, sagt Kugelmann. Dann stürzten die Eisbecher in die Salattheke und die Scherben verteilten sich zwischen den Salatblättern. Rückblickend kann sie über solche Missgeschicke lachen. „Das sind Kleinigkeiten, sie gehören dazu“, sagt sie.
Doch Kugelmann musste auch tragische Momente überwinden. So brach einer ihrer Gäste beim Kegeln zusammen und starb. Ein weiterer Gast hatte einen Herzinfarkt. Auch ihr Schwager, der abends noch beim Ausschank half, erlag auf dem Nachhauseweg einem Herzinfarkt. „Es war das traurigste Erlebnis in all den Jahren. Das muss man erst mal wegstecken“, sagt die 73-Jährige.
Ihre Familie half ihr dabei. „Sie haben mich immer unterstützt. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft“, sagt Kugelmann. Denn als junge Wirtin und Mutter von drei Kindern war die Belastung enorm. Während Kugelmann Essen servierte, kümmerte sich ihre Schwester um die Kinder. Ihr Schwager stand 40 Jahre hinter der Theke. Ihr Mann blieb in der Wirtschaft, bis sich der letzte Gast verabschiedete. Einige Jahre ackerten sie pausenlos.
Vor fünf Jahren verstarb ihr Mann. Im Nachhinein wünscht sie sich, sie hätten mehr Zeit füreinander gehabt. Dann denkt Kugelmann an die vielen schönen Momente, die sie gemeinsam erlebten und die Stärke, mit der sie all die stressigen
Tage meisterten. Das hilft ihr, die derzeitige Krise zu überstehen. Sie ist die Stille im Gastraum nicht gewohnt. Zwischen all den Stühlen wirkt Kugelmann fast ein wenig verloren. Dass die Stube einmal leer bleibt und die Gäste ihr Essen nur noch abholen, war für sie unvorstellbar. „Wenn man 50 Jahre jeden Tag Menschen um sich hat, steckt man diese Leere nicht so leicht weg“, sagt Kugelmann.
Die Corona-Krise hat ihren Blick verändert. Das Leben der 73-Jährigen ist ruhiger geworden. Es sei nicht einfach, aber bislang sei sie ganz gut durch die Pandemie gekommen – dank staatlicher Hilfen und der Unterstützung ihrer Kinder, die 2019 in den Betrieb mit einstiegen. Ihr Sohn arbeitet als Küchenchef, die Tochter kümmert sich um die Buchhaltung.
Kugelmann bietet Essen zum Mitnehmen an, im Hotel übernachten berufstätige Gäste. Wie andere Wirte hofft sie auf einen starken Sommer. Damit mehr Gäste draußen sitzen können, will sie den Biergarten auf Vordermann bringen. Wenn sie nichts zu tun hat, halten ihre sieben Enkelkinder sie auf Trab. Eines von ihnen hilft schon im Gasthaus mit – wie sie damals vor 50 Jahren.