Jack London: Der Seewolf (50)
IDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugung hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.
ch entsinne mich recht wohl der Besprechung“, fuhr sie fort, als sie sich bewußt wurde, wie seltsam ihre Bemerkung wirken mußte. „Sie war wirklich zu schmeichelhaft.“
„Keineswegs“, verneinte ich schnell. „Sie setzen meine nüchterne Urteilskraft herab und entwerten meine Kritik. Im übrigen stimmen alle Kritiker mit mir überein. Hat Lang nicht Ihr Gedicht ,Der geduldete Kuß‘ zu den vier größten Sonetten gezählt, die von Frauen in englischer Sprache geschrieben worden sind?“
„Sie sind sehr gütig“, murmelte sie, und gerade das Konventionelle ihrer Worte und der ganze Schwarm von Vorstellungen des früheren Lebens auf der andern Seite der Welt durchzuckten mich – reich an Erinnerungen, aber auch stechend vor Heimweh.
„Also Sie sind Maud Brewster“, sagte ich feierlich und blickte sie an.
„Und Sie sind Humphrey van Weyden“, sagte sie und erwiderte meinen Blick ebenso feierlich und
furchtsam. „Wie seltsam! Es ist mir alles ganz unverständlich. Wir haben sicherlich eine wildromantische Seegeschichte von Ihnen zu erwarten.“
„Nein, ich sammle keinen Stoff, das versichere ich Ihnen“, lautete meine Antwort. „Ich habe weder Geschick, noch Neigung für phantastische Literatur.“
„Sagen Sie mir: warum haben Sie sich immer in Kalifornien begraben?“fragte sie nun. „Das war wirklich nicht nett von Ihnen. Wir im Osten haben so wenig von Ihnen zu sehen bekommen – viel zu wenig – von dem großen amerikanischen Kritiker.“
Ich lehnte das Kompliment mit einer Verbeugung ab. „Ich hätte Sie fast einmal in Philadelphia getroffen, Sie wollten Browning oder etwas Ähnliches vortragen. Aber mein Zug hatte vier Stunden Verspätung.“
Und dann vergaßen wir ganz, wo wir waren, und ließen Wolf Larsen stumm und wie ein gescheitertes
Schiff inmitten der Brandung unserer Unterhaltung. Die Jäger standen auf und gingen an Deck, und wir sprachen immer noch. Nur Wolf Larsen blieb. Plötzlich wurde ich seiner Anwesenheit inne, er saß zurückgelehnt am Tisch und lauschte neugierig unsern fremdartigen Reden über eine Welt, die er nicht kannte.
Ich brach mitten im Satze ab. Die Gegenwart mit all ihren Gefahren und Schrecken lähmte mich. Fräulein Brewster mußte es ähnlich gehen, ein unbestimmtes namenloses Entsetzen trat in ihre Augen, die jetzt auf Wolf Larsen fielen.
Er erhob sich und lachte verlegen mit einem seltsamen, metallischen Klang.
„Oh, kümmern Sie sich nicht um mich“, sagte er mit einer Handbewegung, als wolle er seine eigene Unterwürfigkeit kundgeben. „Ich zähle nicht mit. Bitte, fahren Sie nur fort.“
Aber die Tore der Beredsamkeit waren geschlossen. Auch wir erhoben uns und lachten verlegen.
Der Verdruß, den Wolf Larsen empfand, weil Maud Brewster und ich ihn in unserer Unterhaltung bei Tisch ignoriert hatten, mußte sich irgendwie Luft machen, und Thomas Mugridge sollte der Sündenbock sein. Trotz seiner gegenteiligen Behauptung hatte er weder sein
Benehmen noch sein Hemd gewechselt. Dieses Kleidungsstück widerlegte ihn ebensosehr, wie die Fettablagerungen auf Ofen, Töpfen und Pfannen, die aller Begriffe von Reinlichkeit spotteten.
„Ich habe dich gewarnt, Köchlein“, sagte Wolf Larsen, „und jetzt hilft’s dir nichts mehr, jetzt kriegst du deine Medizin.“
Mugridge wurde kreideweiß unter der Rußschicht, und als Wolf Larsen nach einem Tau und ein paar Mann rief, schoß der verzweifelte Cockney in wilder Flucht aus der Kombüse, machte weite Sätze über das Deck und duckte sich, um der Verfolgung der grinsenden Mannschaft zu entgehen. Der hätte kaum etwas größeres Vergnügen machen können, als ihn ein bißchen ins Schlepptau zu nehmen, denn was er der Mannschaft an Essen und Trinken vorgesetzt hatte, war einfach scheußlich gewesen. Auch die äußeren Verhältnisse begünstigten das Unternehmen. Die ,Ghost‘ glitt mit nur drei Meilen Fahrt durch das Wasser, und die See war ziemlich ruhig. Aber Mugridge verspürte nur geringe Neigung, untergetaucht zu werden. Höchstwahrscheinlich hatte er schon früher mitgemacht, wie Leute ins Schlepptau genommen wurden. Zudem war das Wasser furchtbar kalt und er alles andere eher, als abgehärtet.
Wie gewöhnlich, wenn Aussicht auf eine Belustigung war, kamen die andere Wache und die Jäger an Deck. Mugridge schien eine verzweifelte Angst vor dem Wasser zu haben und zeigte eine Gewandtheit und Schnelligkeit, die niemand ihm zugetraut hätte.
Als er in dem Winkel zwischen Kombüse und Ruff in die Klemme getrieben wurde, sprang er wie eine Katze auf das Kajütendach und rannte nach achtern. Seine Verfolger kamen ihm zuvor, aber er entwischte ihnen und erreichte das Deck mit Hilfe der Zwischendecksluke.
Jetzt rannte er vorwärts, der Bootspuller Harrison dicht hinter ihm her. Plötzlich aber machte Mugridge einen Sprung und packte die Klüverbaum-Toppenant. Es war das Werk eines Augenblicks. Er hing an den Armen und beschrieb mit den ausgestreckten Beinen einen Kreis in der Luft. Der anstürmende Harrison wurde mitten in den Leib getroffen, brüllte unwillkürlich auf und stürzte rücklings auf das Deck. Händeklatschen und schallendes Gelächter begrüßten diese Heldentat, während Mugridge, die Hälfte seiner Verfolger am Fockmast lassend, wie ein Läufer beim Fußball nach achtern rannte. Direkt nach achtern ging es, nach der Ruff und die Ruff entlang zum Heck. So groß war seine Schnelligkeit, daß er, als er um die Kajüte ausbog, ausrutschte und fiel. Im Fallen traf er die Beine Nilsons, der am Rande stand. Sie stürzten übereinander, doch nur Mugridge erhob sich wieder. Durch eine Laune des Schicksals hatte sein schwächlicher Körper das Bein des starken Mannes wie ein Pfeifenrohr geknickt.
Parsons ergriff das Rad, und die Verfolgung wurde wieder aufgenommen. Immer ums Deck herum ging es. Erst Mugridge, vor Angst fast von Sinnen, und hinterdrein die Matrosen, die sich schreiend die Richtung angaben, und die Jäger, die sie mit brüllendem Gelächter anfeuerten. Auf der Vorderluke fiel dann Mugridge mit drei Mann über sich. Aber er wand sich wie ein Aal heraus und sprang zur Haupttakelung, während ihm das Blut aus dem Munde troff und das anstoßerregende Hemd in Fetzen riß. Hinauf ging es, geradeswegs hinauf, unter den Püttingswanten zum Großmasttopp.
Ein halbes Dutzend Matrosen setzte ihm nach, mußte aber an den Dwarssalingen zurückbleiben bis auf zwei, Oofty-Oofty und Black, den Bootssteuerer Latimers, die ihn weiter die dünnen, stählernen Stags hinauf verfolgten und sich mit den Armen immer höher schwangen.