Frau erfuhr schon bei „Zwölf Stämmen“Gewalt
Justiz Zwei Alkoholkranke finden in ihrer Liebe Halt. Dann kommt es zu einem fatalen Abend. Im Prozess am Augsburger Landgericht geht es um Sucht, Gefühle und frühe Gewalterfahrungen.
Als ihr Freund sie würgte, sagt Miriam F. mit den langen, blonden Haaren nahezu emotionslos, sei sie nicht erschrocken. „Ich kannte das schon aus anderen Beziehungen.“Richtig Angst aber habe sie bekommen, als er das Messer in der Hand hielt, erzählt die 37-Jährige dem Richter. Dann stach ihr Verlobter zu, schnitt mit dem Messer in ihren Hals. Knapp verfehlte das Messer Gefäße, traf nur den Halsmuskel. Um versuchten Totschlag geht es bei einem Prozess vor dem Augsburger Landgericht. Der Fall offenbart eine fatale Beziehung zweier Menschen, die sich unter extremen Umständen kennen und lieben lernten. Und er legt das Schicksal einer Frau offen, die schon als Kind viel Gewalt erfuhr. Denn sie wuchs bei der Sekte „Zwölf Stämme“auf.
Die gelernte Bankkauffrau Miriam F. und der 30-jährige Schlosser Frank M. (Namen geändert) beginnen während einer Adaption eine Beziehung. So nennt man die Phase nach einer Entwöhnungsbehandlung. Beide sind Alkoholiker, wollen von ihrer Sucht loskommen. Sie haben auf dem Weg dorthin schon viel erreicht, gelten zu dem Zeitpunkt als trocken. Frank M. hat inzwischen wieder einen Job, seine Freundin zieht zu ihm. Das Paar plant seine Zukunft, von Hochzeit ist die Rede. Die, die bislang kaum Glück im Leben hatten, haben es endlich gefunden. Doch der Schein trügt.
Vor Gericht lässt sich nicht klären, wer von ihnen zuerst wieder zur Flasche griff. Ihr Rückfall in die Sucht hat fatale Folgen. Gegenseitige Beschuldigungen bleiben nicht aus, auch nicht die Momente voller
Suff. „Es war eine unheilvolle Liebesbeziehung. Es war nahezu absehbar, dass einer wieder schwach wird und den anderen mitreißt“, sagt Anwalt Klaus Rödl, Verteidiger von Frank M., am Prozessende. Die Situation eskalierte eines späten Abends Anfang Juli 2021.
„Wir hatten nie groß gestritten“, berichtet Miriam F. dem Vorsitzenden Richter Roland Christiani. Ihre Anwältin Isabel Kratzer-Ceylan sitzt an ihrer Seite, hält beruhigend ihre Hand. Auch sei der Angeklagte, der keinerlei Vorstrafen hat, nie aggressiv gewesen. Im Gegenteil. „Er war immer für mich da, hat viel für mich gemacht.“An jenem Abend aber habe sie Frank M. verkündet, dass sie sich trennen werde, sollte sich weiterhin Alkohol in der Wohnung befinden. „Denn ich wusste, ich konnte selbst nicht widerstehen.“Für Frank M., so wird es in dem Verfahren deutlich, muss in diesem Moment eine Welt zusammengebrochen sein. Was er dann tat, könne er sich bis heute nicht erklären, sagt er. Es kommt zum Streit, zum Gerangel. Frank M., der zu dem Zeitpunkt weit über drei Promille Alkohol im Blut hat, würgt Miriam F., greift zum Messer. Als er in ihren Hals sticht, lässt er die Waffe wieder fallen. „Er war selbst erschrocken“, erinnert sich die Geschädigte, „wirkte plötzlich, als sei er aufgewacht.“Klaus F. lässt von ihr ab, wählt selbst den Notruf.
Für die 37-Jährige ist die Tat eine weitere traumatische Erfahrung in einem Leben voller Gewalt, die bereits in ihrer Kindheit beginnt, wie Anwältin Isabel Kratzer-Ceylan am Rand des Prozesses erzählt. Miriam F. wächst in der Sekte „Zwölf Stämme“auf, die auch in Nordschwaben bereits für viele Schlagzeilen sorgte. Ihre Eltern waren in jungen Jahre in die Fänge der Sekte geraten. Dort sollen schon kleine Kinder täglich mit der Rute gezüchtigt werden – auch Miriam F. „In der Sekte darf sich niemand zu einem Individuum entwickeln, eigene Bedürfnisse und Emotionen werden ausgetrieben“, weiß Kratzer-Ceylan und berichtet von einem morgendlichen Ritual eines dreistündigen Gebetes, währenddessen komplette Stille und Bewegungslosigkeit herrschen müsse. „Allein das Gähnen ist ein Grund für Züchtigung. Selbst kleine Kinder müssen funktionieren.“
Ihre Mandantin habe sich um jeden Preis von den Zwölf Stämmen lösen wollen. Im Alter von 19 Jahren gelingt ihr die Flucht. „Das war nicht einfach, denn die lassen einen nicht einfach gehen, aber sie hatte etwas gegen die Sekte in der Hand.“Miriam F. schafft es auch, ihre Eltern rauszuholen. „Sie ist eine starke Frau“, meint die Anwältin über die Frau. Außerhalb der Zwölf Stämme habe sich ihrer Mandantin eine völlig fremde Welt aufgetan. Die Orientierung fällt ihr zunächst schwer. Miriam F. gerät wieder an Menschen, die es nicht gut mit ihr meinen. „Leider hatte sie weiter traumatische Erlebnisse, eines davon führte sie in die Alkoholsucht.“Momentan sei ihre Mandantin wieder trocken. „Sie ist ein sehr reflektierter Mensch.“Überlegtheit zeigt sie auch in der Verhandlung.
Als Richter Roland Christiani von ihr wissen will, ob sie dem Angeklagten, der während seiner Untersuchungshaft offenbar etliche Liebesund Entschuldigungsbriefe verfasst hatte, verziehen habe, sagt Miriam F.: „Ich bin schockiert. Aber ich bin nicht sauer. Ich weiß ja selber, wie es ist, Alkoholikerin zu sein.“Auch wenn die 37-Jährige ihre einstige große Liebe während der Verhandlung nicht ansieht, lässt sie dem Angeklagten eine Entschuldigung gewähren. „Es tut mir von ganzem Herzen leid“, sagt Frank M. mit fester Stimme. Es sei ihm unerklärlich. Er hoffe, sie könne seine Entschuldigung annehmen. Miriam F. nickt unter Tränen.
Am Ende der mehrtägigen Verhandlung sind sich Staatsanwalt Thomas Junggeburth, NebenklageVertreterin Isabel Kratzer-Ceylan und Verteidiger Klaus Rödl einig: Sie plädieren für eine Bestrafung wegen gefährlicher Körperverletzung. Auch das Gericht nimmt von der ursprünglichen Anklage wegen versuchten Totschlags Abstand und verurteilt Frank M. zu einer Haftstrafe von vier Jahren und zwei Monaten. Der 30-Jährige wird in einer Entziehungsanstalt untergebracht. Er muss eine zweijährige Therapie absolvieren.
Anwalt: „Es war eine unheilvolle Beziehung“