Wie Svitlana gegen Putin kämpft
Im Dorf Meschyritsch in der Westukraine, in dem die 60-jährige Lehrerin lebt, sind Widerstand und Zusammenhalt groß. Doch hier wird auch deutlich, welche Auswirkungen der Krieg hat – auf die Dorfgemeinschaft und auf Einzelne.
„Mein Bruder sprach davon, dass die toten Zivilisten eine Lüge seien“
Meschyritsch Drei Kühe weiden gemächlich auf der Wiese vor den Mauern des Klosters der heiligen Dreifaltigkeit. Gebaut im byzantinischen Stil, erzählen Schießscharten und Türme von bewegten Zeiten: Tataren bedrohten früher einmal Kloster und Dorf. Das schwarz-weiße Fleckvieh interessiert sich naturgemäß weniger für den imposanten Bau aus Zeiten der Renaissance und kaut Gras. „Sie gehören dem Kloster, deswegen nennen wir sie die heiligen Kühe“, sagt Svitlana und lacht. Sie ist gerade auf der Dorfstraße, die kaum breiter ist als ein Fahrradweg, hierhergelaufen gekommen. Hinter ihr sind die Überreste eines Tores aus dem 16. Jahrhundert zu sehen. Grob behauene Steine und Felsstücke türmen sich zu einem Gewölbedach auf. Die Ruine wirkt wie ein Motiv auf einem alten Stich.
Meschyritsch im westukrainischen Wolhynien ist ein Tausend-EinwohnerDorf, wie Russlands Präsident und Kriegsherr Wladimir Putin es wohl hasst.
Aber erst einmal weiter. Rechts von der Ruine ragt ein mächtiger Ofen in den Himmel. Er ist alles, was vom Palast des Fürsten Johann von Ostrogski übrig blieb: ein Dach, getragen von Säulen, gekrönt von einem hohen Schlot. Links sieht man den noch immer gut erhaltenen Erdwall, der einst das Dorf umschloss. Unter dem Adelsgeschlecht der Ostrogskis erhielt Meschyritsch sogar das Stadtrecht. „Kommen Sie“, sagt Svitlana und führt in die Klosterkirche hinein. Im Dämmerlicht des Gotteshauses leuchtet es golden auf Ikonen und Deckengemälde. „Schön, nicht?“, flüstert die 60-Jährige.
Die Menschen in Meschyritsch sind stolz auf ihre Tradition und auf ihr Land. Mag ein russischer Diktator behaupten, Ukrainerinnen und Ukrainer bildeten keine Nation, in Meschyritsch wird man schnell eines Besseren belehrt. „Wir sind eine Nation, das ist doch schon einmal völlig klar“, bekräftigt Svitlana kopfschüttelnd, als sie dann das Dorf zeigt. Eigentlich ist sie gebürtige Russin. Ihren Mann Rostyslav lernte sie als junge Lehrerin kennen. Anfang der 1980er Jahre war das, zu Sowjetzeiten, bei einem Camp der Jungen Pioniere. Beide waren im Betreuerteam.
Bereits in ihrer Jugend war sie aus Russland ins ukrainische Horliwka gezogen. Die Stadt im Donbass schrieb nach 2014 traurige Geschichte. Der Krieg brachte viele Kämpfe und Tote, Separatisten konnten sie schließlich mit russischer Unterstützung unter Kontrolle bringen. Svitlanas Schwester flüchtete damals nach Frankreich. „Als ich in Horliwka Anfang der 80er Jahre studierte, habe ich die Vielfalt der ukrainischen Kultur erstmals von anderen Studierenden kennen und lieben gelernt. Ein Mädchen sang so wunderschön auf Ukrainisch, das hat mich sehr beeindruckt. Ich wollte mehr erfahren“, erzählt sie. Auch wenn in Horliwka die russische Sprache dominierte und ukrainische Kultur den Behörden nicht unbedingt als etwas Fördernswertes galt.
Dann heiratete sie ihren Rostyslav, zog in seinen Geburtsort Meschyritsch und damit in eine völlig andere Welt. In der benachbarten Kleinstadt Ostroh musste sie auf einmal ausschließlich in Ukrainisch unterrichten. „Das war schon eine ganz schöne Herausforderung für mich“, erinnert sie sich. „Aber die Menschen haben mich herzlich und offen aufgenommen. So hat es geklappt.“
Svitlana hat in Meschyritsch längst ihre neue Heimat gefunden. Doch in Russland lebt weiterhin ein Teil ihrer Familie. Und das macht es kompliziert.
Die Annexion der Krim durch Russland und der Krieg im Donbass brachten ab 2014 die ersten tiefen Risse. „Jetzt haben wir den großen Krieg seit dem 24. Februar. Was für eine Katastrophe“, sagt Svitlana. Einen Monat bevor der russische Angriff begann, war sie nochmals in der alten Heimat zu Besuch. „Mein Mann bat mich am
Telefon, schnell zurückzukommen. Er hätte mich am liebsten gar nicht gehen lassen. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass Russland uns wirklich angreift. In der alten Heimat waren alle nett und höflich. Eine drohende Invasion, das kam mir völlig unwirklich vor“, sagt sie.
Die 60-Jährige steht jetzt auf Höhe einer Kreuzung in der Mitte von Meschyritsch, gegenüber von zwei kleinen Dorfläden und der Post. „Es wird für mich nie mehr so sein wie in diesem Januar.“
Als nach Kriegsbeginn Raketen in den größeren Städten einschlugen und Putins Panzer anrollten, schrieb sie Studienfreunde aus den Kampfgebieten online an: „Kommt zu uns, hier im Westen seid ihr sicher.“Viele taten es ihr gleich. Und so leben heute zahlreiche Vertriebene in Meschyritsch. Sie können nicht zurück, weil dort, wo sie herkommen, gekämpft wird, Häuser und Wohnungen zerstört oder Gebiete unter russischer Besatzung sind. Svitlana und ihr Mann haben ein Ehepaar aus dem Charkiwer Raum im Nordosten der Ukraine bei sich aufgenommen.
Sie weiß, welche Folgen dieser Krieg hat. Die Reaktionen ihrer Familie aus Russland auf die Invasion empfand sie als einen Schlag ins Gesicht. „Mein Bruder sprach davon, dass die Zerstörungen und die vielen toten Zivilisten alles Lüge seien. Plötzlich war die Ukraine ein Nazi-Land. Mein Gott, sie kennen die Ukraine doch. Sie wissen, dass das nicht wahr ist.“Als die ersten Menschen, die Svitlana persönlich kannte, ums Leben kamen, hielt ihre Familie in Russland weiter unbeirrt Putin die Treue. „Sich anhören zu müssen, dass ich lüge, während russische Truppen Tausende Menschen töten – es war unerträglich für mich“, sagt sie im Rückblick. „Früher konnte ich noch das Thema wechseln. Da wollte ich das nicht mehr. Es ist viel zu viel passiert.“Seitdem erhält sie kaum noch Anrufe.
Vermutlich sind es Hunderttausende, wenn nicht Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, die eine ähnliche bittere Erfahrungen
wie Svitlana gemacht haben. Verwandte in Russland leugnen selbst dann noch russischen Beschuss von Zivilisten, wenn ihnen Bilder von den Zerstörungen geschickt werden. „Ich habe das so oft von Bekannten gehört. Ich frage mich, wie es das geben kann: den verlogenen russischen Staatsmedien mehr zu trauen als seinen eigenen Verwandten. Menschen, mit denen man aufgewachsen ist“, sagt Svitlana. „Doch jetzt, mit der Teilmobilmachung, werden sie in Russland merken, wie schrecklich Angst vor dem Krieg ist, wenn sie um eigene Angehörige fürchten müssen.“Auch ihr Neffe ist Reservist. Wie furchtbar wäre es, wenn er auf Menschen in der Ukraine schießen würde.
Svitlana läuft nun zum Kulturhaus. Dort wartet Sophia in ihrem Büro mit der Fototapete und der Ukraine-Fahne an der Wand. Dorfmedizinerin Tatjana stößt dazu, sie kommt mit selbst gebackenem Kuchen durch die Türe. Bald duften Tee, Kaffee und Gebäck. Die drei Frauen sprechen über die erste Phase nach Beginn der Invasion. Jeder habe damals alles gegeben.
Die Menschen spendeten Geld für die Ausrüstung der Armee. Die Bauern brachten Obst und Gemüse. Die Frauen kochten in der Dorfschule für Soldaten und flochten Tarnnetze. Noch bis zum Schulbeginn im September ging das so, dann waren die Kinder wieder zurück. Gekocht wird jetzt von Freiwilligen in Ostroh, auch Tarnnetze entstehen in der Nachbarstadt. Die Menschen aus Meschyritsch nehmen Geflüchtete auf oder spenden. Und sie bangen um die vielen Männer ihres Dorfes, die an der Front kämpfen. Es gibt einen Gefallenen zu beklagen, es gibt Verwundete.
In acht Kilometern Entfernung liegt ein Atomkraftwerk. Keiner mag sich ausmalen, was passiert, wenn eine verirrte Rakete einschlägt. Oder ein gezielter Beschuss erfolgt. Putin traut man hier so ziemlich alles zu. Aber, da sind sich die drei Frauen einig: Wenn der Frieden komme, werde die Ukraine stark sein wie nie zuvor. „Wenn wir uns dieses Zusammengehörigkeitsgefühl bewahren können... – was dann alles an Gutem möglich ist!“, sagt Tatjana. Svitlana und Sophia nicken.
Danach drängt Svitlana zum Aufbruch, sie will noch ihren Arbeitsplatz zeigen. Die 60-Jährige lehrt Französisch an der Akademie von Ostroh, die im Jahr 1576 gegründet wurde. „Das ist eine korruptionsfreie Universität“, betont sie im sanierten Haupttrakt. Das Adelsgeschlecht der Ostrogskis hatte die Hochschule aufgebaut. Gelehrte aus ganz Europa kamen einst nach Ostroh, die heutige Kleinstadt war ein kulturelles Zentrum. Rektor Ihor Pasichnyk erzählt voller Stolz: von der Neugründung der Akademie im Jahr 1994
Ein Ex-Student aus der nahen Kleinstadt wurde zum Kriegshelden
und davon, wie man im Krieg bestehe. „Einer unserer Professoren gibt Online-Unterricht direkt von der Front“, sagt er. Und dass es ein ehemaliger Student auf das Titelblatt des aktuellen Time-Magazins geschafft habe: General Valerij Saluschnyj. Der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte wird als Kriegsheld verehrt. „Konstantin Ostroschski führte schon 1514 eine siegreiche Schlacht gegen das russische Heer“, fällt dem Rektor ein.
Schließlich lobt er seine Studierenden. „Sie haben viel organisiert, um der Armee zu helfen. Für den Kauf von schusssicheren Westen, Geländeautos und Drohnen haben sie Geld gesammelt und sammeln natürlich immer noch. Sie haben Tarnnetze geflochten, mit angepackt, wo Hilfe nötig war.“Ihor Pasichnyk kennt ehemalige Studenten, die gefallen sind – wie ein Professor der Akademie, der als Freiwilliger diente.
Zurück in Meschyritsch deckt Svitlana mit ihrem Mann den Tisch fürs Abendessen. Hinter ihrem Haus begrenzt der alte Schutzwall des Dorfes ihren Garten. Hin und wieder fragt sich Svitlana, ob einmal eine Zeit kommen wird, die keine Wälle mehr nötig hat.