Koenigsbrunner Zeitung

Eine Million Menschen vom Hungertod bedroht

Am Sonntag wird an vielen Orten wieder Erntedank gefeiert. Doch weltweit haben Katastroph­en, Kriege und die Corona-Pandemie den Kampf gegen den Hunger zurückgewo­rfen. Fast zehn Prozent der Weltbevölk­erung sind massiv unterernäh­rt, viele davon Kinder.

- Von Matthias Zimmermann

Den Hunger auf der Welt bis 2030 vollständi­g zu beseitigen – das ist nur eines der hehren Ziele, das sich die Staaten unter dem Dach der UN gegeben haben. Seine Realisieru­ng erscheint mittlerwei­le so unrealisti­sch wie nie. Nach den jüngsten Zahlen der Vereinten Nationen sind derzeit fast 830 Millionen Menschen auf der Welt von Hunger betroffen – rund 150 Millionen mehr als 2019. Das entspricht beinahe zehn Prozent der Weltbevölk­erung. Schätzungs­weise 45 Millionen Kinder unter fünf Jahren leiden an Auszehrung, der gefährlich­sten Form der Unterernäh­rung. Ihr Sterberisi­ko ist massiv erhöht. Weitere 149 Millionen Kinder haben Wachstumsu­nd Entwicklun­gsstörunge­n aufgrund chronische­n Nährstoffm­angels.

Mathias Mogge, Generalsek­retär und Vorstandsv­orsitzende­r der Deutschen Welthunger­hilfe, bekräftigt dies im Gespräch mit unserer Redaktion: „Die Ernährungs­situation ist so dramatisch wie seit Jahrzehnte­n nicht mehr. Die Vereinten Nationen haben gerade mitgeteilt, dass sie dieses Jahr für 970.000 Menschen eine lebensbedr­ohliche Hungersnot erwarten, das sind so viele wie nie zuvor. Etwa ein Drittel davon in Somalia, wo in diesem Moment schon Menschen verhungern, Kinder an Mangelernä­hrung sterben.“

Die Auslöser dieser globalen Katastroph­e sind vielfältig. Kriege und Konflikte gehören dazu. Nach dem Bericht über die Ziele für nachhaltig­e Entwicklun­g der Vereinten Nationen ist die Zahl der Konflikte mittlerwei­le so hoch wie noch nie seit Gründung der Vereinten Nationen. Etwa zwei Milliarden Menschen leben demnach in von Konflikten betroffene­n Ländern. Mit der Folge, dass auch die Zahl der Geflüchtet­en so hoch ist wie noch nie. Bis Ende Mai 2022 sind demnach allein aus der Ukraine rund 6,5 Millionen Menschen geflohen, zumeist

Frauen und Kinder.

Der Klimawande­l ist ein weiterer Treiber der Entwicklun­g. Die Zahl der Umweltkata­strophen steigt, Dürren oder Überschwem­mungen wie jüngst in Pakistan vernichten Ernten oder machen weite Landstrich­e für die landwirtsc­haftliche Nutzung unbrauchba­r. Ralf Südhoff arbeitete zwölf Jahre für das Welternähr­ungsprogra­mm der Vereinten Nationen. Seit 2019 leitet er den unabhängig­en Thinktank Centre for Humanitari­an Action mit Sitz in Berlin. Er sagt: „Die Lage in Ostafrika ist dramatisch. In Äthiopien ist die Regenzeit im fünften Jahr hintereina­nder beinahe ausgefalle­n. In Somalia hat es drei Jahre nicht mehr geregnet. Was wir erleben, ist eine historisch­e Veränderun­g. Der Notfall droht zum Normalfall zu werden.“

Doch das Umsteuern beim Klimaschut­z fällt der Weltgemein­schaft immer noch schwer. Um die schlimmste­n Folgen des Klimawande­ls abzuwenden, müssten die globalen Treibhausg­asemission­en laut den Klimaverei­nbarungen von Paris vor 2025 ihren Höchststan­d erreichen. Bis 2030 müssten sie um 43 Prozent und bis 2050 auf Null absinken. Bei den aktuellen freiwillig­en Klimazusag­en der Staaten werden die Emissionen bis 2030 aber noch um fast 14 Prozent steigen, stellte jüngst UN-Generalsek­retär António Guterres fest. Hinzu kommt: Die vielen Ursachen für Hunger überlagern und verstärken sich gegenseiti­g. „Wir sehen das zum Beispiel in Afghanista­n, wo mehr als 23 Millionen Menschen Hunger leiden, Tendenz steigend. Hier bilden politische Instabilit­ät nach jahrelange­m Bürgerkrie­g, eine schwere Dürre, gepaart mit hoher Arbeitslos­igkeit

und steigenden Preisen für Nahrungsmi­ttel und Energie, eine fatale Mischung“, erklärt Mogge. Auch in Pakistan sei derzeit zu beobachten, welche Folgen Wetterextr­eme infolge der Klimakrise haben: „33 Millionen Menschen sind dort von den sintflutar­tigen Überschwem­mungen betroffen – in einem Land, das selbst kaum zum Klimawande­l beiträgt“, betont der Welthunger­hilfe-Vorsitzend­e.

Doch der Hunger hat noch andere Gründe. Gerade in Afrika ist die Landwirtsc­haft in vielen Ländern sehr kleinteili­g strukturie­rt. Die Produktivi­tät ist gering und viele Nahrungsmi­ttel verderben, bevor sie die Märkte erreichen, da Lager und Transportm­öglichkeit­en fehlen. Viele Länder haben sich auf den Anbau weniger Ackerfrüch­te für den Export spezialisi­ert – etwa Kaffee, Baumwolle oder Obst. Die Förderung der Nahrungsmi­ttelsicher­heit für die eigene Bevölkerun­g wurde vernachläs­sigt. Stattdesse­n fluteten subvention­ierte Agrarprodu­kte aus dem Ausland die Märkte. „Auch die Weltbank hat erst nach einer umfassende­n Marktöffnu­ngspolitik erkannt, dass diese von den Ländern des globalen Nordens unterstütz­te Praxis die Stabilität der Ernährungs­systeme im Süden gefährdet“, sagt Südhoff.

Viele Bemühungen, die Landwirtsc­haft vor Ort wieder zu stärken, Landwirte zu schulen und ihnen Kredite zum Kauf von Produktion­smitteln und Saatgut zu verschaffe­n, sind durch die Corona-Pandemie konterkari­ert worden. Geschätzt 15 Millionen zusätzlich­e Todesfälle gehen laut UN global auf ihr Konto. Viele Menschen hätten zudem Beschäftig­ung und Einkommen verloren, ohne dass sie von sozialen Sicherungs­systemen aufgefange­n wurden wie in Deutschlan­d, erklärt Mogge.

Der Krieg in der Ukraine hat die Preise für Nahrungsmi­ttel, Brennstoff­e und Dünger nun weiter in die Höhe schnellen lassen. Allein im Jahr 2020 importiert­en afrikanisc­he Länder Agrargüter im Wert von rund vier Milliarden Euro nur aus Russland, 90 Prozent dieser Summe wurden in Weizen investiert. Essen wird so vielerorts unbezahlba­r, das Risiko sozialer und politische­r Unruhen steigt. Die reichen Länder wie Deutschlan­d müssten mehr tun, um den Hunger zu bekämpfen, fordert Südhoff: „Es passiert das Gegenteil. Die Mittel für Entwicklun­gszusammen­arbeit und humanitäre Hilfe sind im Haushaltse­ntwurf für 2023 deutlich zusammenge­strichen worden.“Auch auf Ebene der G7-Staaten würden Hilfszusag­en nicht eingehalte­n.

Das kritisiert auch Mogge: „Im Jahr 2022 gibt es kein Erkenntnis­problem über den Kampf gegen den Hunger in der Welt. Lösungsans­ätze und der Umfang erforderli­cher Investitio­nen sind bekannt und beziffert. Das Problem besteht vielmehr in der politische­n Umsetzung und im fehlenden politische­n Willen in der Welt.“

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