Koenigsbrunner Zeitung

Wende im Fall Ursula Herrmann?

- Von Holger Sabinsky-Wolf

Die Entführung und der Tod des kleinen Mädchens vom Ammersee bewegt die Menschen bis heute. Nun nährt ein neues Gutachten die Zweifel, ob der wahre Täter im Gefängnis sitzt. Bald wird es in einem Film vorgestell­t.

Eching Die Entführung und der Tod der kleinen Ursula Herrmann vom Ammersee ist eines jener Verbrechen, die nie in Vergessenh­eit geraten werden. Ein zehnjährig­es Mädchen als Opfer. Eine mühevoll gebaute und ausgestatt­ete Gefängnisk­iste. Ein jahrelange­s Ermittlung­schaos. Eine Verhaftung nach 27 Jahren. Und ein Urteil, das zwölf Jahre später immer noch von vielen – auch von Ursulas Bruder – angezweife­lt wird. Das alles macht den Fall zu einem der außergewöh­nlichsten Fälle der deutschen Kriminalge­schichte. Nun kommt ein spannendes Kapitel hinzu. Ein neues Gutachten verstärkt die Zweifel daran, dass der wahre Täter im Gefängnis sitzt.

Um die Zusammenhä­nge zu verstehen, muss man zurückblen­den in den September 1981. Am ersten Schultag nach den Sommerferi­en besucht Ursula am Nachmittag ihre Turnstunde und isst dann bei ihrer Tante in Schondorf zu Abend. Gegen 19.15 Uhr macht sich das Mädchen mit seinem roten Fahrrad auf den Heimweg. Durch das Waldgebiet „Weingarten“sind es nur zwei Kilometer bis zum Elternhaus in Eching. Doch Ursula kommt nie dort an.

Entführer lauern ihr auf. Sie betäuben das Mädchen und bringen es zu einer Lichtung im dichten Fichtenwal­d. Dort stecken sie Ursula in eine eigens dafür gebaute Gefängnisk­iste und vergraben die Kiste im Boden. In dem Verlies sind Essen und Getränke, Wolldecken, ein Toilettene­imer, ein Jogginganz­ug. Ein Transistor­radio und eine Glühbirne sind an eine Autobatter­ie angeschlos­sen. Die Entführer haben auch Lesestoff in die Kiste gepackt: Comic-Hefte wie „Clever & Smart“und Groschenro­mane wie „Am Marterpfah­l der Irokesen“. Sogar ein Lüftungsro­hr ist eingebaut. Doch es funktionie­rt nicht. Das Mädchen erstickt.

Die Familie weiß davon noch nichts. Sie ruft die Polizei, als Ursula nicht nach Hause kommt. Beamten finden das Fahrrad des Mädchens. Familie Herrmann ahnt Schrecklic­hes. Aber erst zwei Tage später ruft jemand an, allerdings ohne etwas zu sagen. Er spielt lediglich

die bekannte Melodie für Verkehrsna­chrichten des Radiosende­rs Bayern 3 ab, die ersten sieben Töne des Volksliede­s „Solang der alte Peter“. Neun solcher Anrufe erhält die Familie Herrmann in den Tagen darauf. Am 18. September kommt der erste Erpresserb­rief. Die Entführer verlangen zwei Millionen Mark Lösegeld. Drei Tage danach kommt der nächste Brief. 19 Tage nach Ursulas Verschwind­en, am 4. Oktober 1981, wird die Kiste mit dem toten Mädchen gefunden.

Für die Familie ist es ein Albtraum. Und er endet nicht. Es wird kein Täter gefunden. Fast 27 Jahre lang. Dann verhaften die Ermittler im Mai 2008 einen Verdächtig­en. Werner Mazurek wird auch angeklagt und wegen erpresseri­schen Menschenra­ubs mit Todesfolge zu lebenslang­er Haft verurteilt. Aber nach einem ein Jahr dauernden Indizienpr­ozess bleiben nagende

Zweifel. Bis heute. Ursulas Bruder Michael Herrmann glaubt nicht an die Schuld Werner Mazureks. Er hat auf vielerlei Weise versucht, einen neuen Strafproze­ss zu erzwingen, unter anderem durch eine Zivilklage.

Die Geschichte vom Leiden und Tod der kleinen Ursula ist in ungezählte­n Film- und Tonbeiträg­en erzählt und hinterfrag­t worden. Die preisgekrö­nte Produktion­sfirma Raw Television hat nun für Sky einen neuen aufwendige­n Dokumentar­film gemacht. Der Streifen im Abendforma­t (84 Minuten) rekonstrui­ert den Entführung­sfall und begleitet Ursulas Bruder auf seiner Suche nach Wahrheit. Das haben andere True-Crime-Formate auch bereits gemacht. Die Besonderhe­it an dem Sky-Film ist, dass die Produktion­sfirma selbst ein unabhängig­es Gutachten zu dem Fall bei der Universitä­t Zürich in Auftrag gegeben hat. Und diese

Untersuchu­ng kommt zu einem bemerkensw­erten Ergebnis.

Das Urteil aus dem Jahr 2010 basiert auf zwei Hauptindiz­ien: der Aussage des Alkoholike­rs Klaus P. von früher, er habe im Auftrag Mazureks ein großes Loch im Wald gegraben. P. widerrief dieses Geständnis zwar. Das Augsburger Schwurgeri­cht wertete die ursprüngli­che Aussage des inzwischen Verstorben­en aber als glaubhaft. Das zweite wesentlich­e Indiz war ein Tonband vom Typ Grundig TK 248, das bei Mazurek zu Hause gefunden wurde. Seine Behauptung, er habe das Gerät erst viel später auf einem Flohmarkt gekauft, nahmen ihm die Richter nicht ab. Eine Gutachteri­n des bayerische­n Landeskrim­inalamts (LKA) kam letztlich zu dem Schluss, dass dieses Gerät mit schräg gestellten Aufnahmekö­pfen „wahrschein­lich“zum Herstellen der Erpressera­nrufe benutzt wurde. Doch das Gutachten der Universitä­t Zürich zieht im Grunde genommen genau den gegenteili­gen Schluss.

Die renommiert­en Schweizer Phonetik-Experten sagen im Gegensatz zur LKA-Gutachteri­n, es sei sehr unwahrsche­inlich, dass Mazureks Grundig-Gerät die spezielle Täter-Tonfolge hervorgebr­acht hat. Und den besonderen Sound aus den Erpressera­nrufen führen sie nicht zwingend auf die schräg gestellten Tonköpfe zurück. Vielmehr gebe es eine Reihe verschiede­ner Faktoren, die zu einem solchen Klangbild führen könnten.

Mazureks Augsburger Anwalt Walter Rubach drückt es so aus: „Es ist mit diesem Gerät wie mit Millionen anderer Geräte möglich, diese Tonfolge zu erzeugen. Nach dem Gutachten der Universitä­t Zürich wäre also das Gutachten des LKA aus dem Strafproze­ss falsch. „

Michael Herrmann hat gerade an dem Indiz Tonband immer starke Zweifel gehegt. Als Musiker und

Musiklehre­r hat er sich selbst viel mit Akustik und Phonetik beschäftig­t. Das LKA-Gutachten hat ihn nie überzeugt. Er glaubt nicht, dass Mazurek der Entführer seiner kleinen Schwester war und ist der Ansicht, dass die Täter aus dem Umfeld des Schullandh­eims in Schondorf stammen. Ob das neue Gutachten reicht, um eine Wiederaufn­ahme des Verfahrens zu erreichen, darf dennoch bezweifelt werden. Andere Versuche scheiterte­n in der Vergangenh­eit, die Hürden für ein Wiederaufn­ahmeverfah­ren sind rechtlich sehr hoch.

Für den Verurteilt­en Werner Mazurek bedeutet dies, dass er im Gefängnis in Lübeck bleiben muss. Er ist heute 72 Jahre alt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Nach wie vor beteuert er seine Unschuld, er kommt auch in der neuen Doku zu Wort. Für sein weiteres Schicksal dürfte es unbedeuten­d sein, wie die Augsburger Justiz das neue Gutachten bewertet. Im Mai 2023 hat er 15 Jahre abgesessen und gute Chancen, trotz seiner lebenslang­en Gefängniss­trafe vorzeitig in die Freiheit entlassen zu werden.

> Der Dokumentar­film „Das Mädchen in der Kiste: Wer tötete Ursula Herrmann?“soll ab dem 3. November bei Sky zu sehen sein.

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 ?? Fotos: Polizei/Sky, dpa ?? Die Doku „Das Mädchen aus der Kiste“beleuchtet den Fall von Ursula Herrmann und bringt ein neues Gutachten ins Spiel. Michael Herrmann (rechts), der Bruder des Mädchens, sowie der verurteilt­e Werner Mazurek spielen darin ebenso eine Rolle wie das Tonbandger­ät, das eines der wichtigste­n Beweisstüc­ke in dem Indizienpr­ozess war.
Fotos: Polizei/Sky, dpa Die Doku „Das Mädchen aus der Kiste“beleuchtet den Fall von Ursula Herrmann und bringt ein neues Gutachten ins Spiel. Michael Herrmann (rechts), der Bruder des Mädchens, sowie der verurteilt­e Werner Mazurek spielen darin ebenso eine Rolle wie das Tonbandger­ät, das eines der wichtigste­n Beweisstüc­ke in dem Indizienpr­ozess war.

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