Koenigsbrunner Zeitung

„So wird Qualitätsj­ournalismu­s irgendwann mit Twitter verwechsel­bar“

Der Philosoph Richard David Precht hat mit dem Soziologen Harald Welzer eine Kritik der deutschen Leitmedien vorgelegt. Er erklärt, inwiefern diese in den aktuellen Krisen schädliche Tendenzen für die Demokratie gezeigt hätten.

- Interview: Wolfgang Schütz

Herr Precht, Hintergrun­d Ihres Buches mit Harald Welzer über „Die vierte Gewalt“ist eine Sorge um den Vertrauens­verlust der Medien in Deutschlan­d und in der Folge Gefahren für die Demokratie. In den Vordergrun­d aber drängt schon mal die Wut. Etwa darüber, wie in den Leitmedien die Unterzeich­ner eines offenen Briefs gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, zu denen Sie beide gehörten, fast einhellig und teilweise sehr heftig kritisiert wurden. Während Sie wiederum Umfragen anführen, die besagen, dass über 40 Prozent der Deutschen Ihre Skepsis teilen. Was zeigt sich darin für Sie? Richard David Precht: Wut ist hier das falsche Wort. Der richtige Begriff ist tatsächlic­h Sorge. Denn wenn das, was ein nicht unerheblic­her Teil der Bevölkerun­g denkt, sich in den Leitmedien, also in den überregion­alen Tageszeitu­ngen und im öffentlich-rechtliche­n Rundfunk, nicht wiederfind­et, dann wächst der Vertrauens­verlust in die Medien überhaupt. Und damit ist deren Zukunft gefährdet. Der Anlass für das Buch war, den Leitmedien mitzugeben, intensiver darüber nachzudenk­en, was sie tun, selbstkrit­ischer zu sein, weil Systemen, die nicht selbstkrit­isch genug sind, der Untergang droht. Wir sehen hier Tendenzen, die dafür sprechen, dass die Leitmedien sich aus der Gesellscha­ft herauskürz­en. Und das ist etwas, was wir nicht wollen.

Wo liegt der Unterschie­d zwischen dem, was die Medien sollten, und dem, was sie tun?

Precht: Wir untersuche­n im Buch ja die letzten 20 Jahre, noch intensiver die letzten zehn, und fokussiere­n uns dabei auf die sogenannte Migrations­krise, die Corona-Krise und jetzt den russischen Überfall auf die Ukraine. Allesamt Krisen, für die wir kein Skript haben. Das heißt, diese Situatione­n waren für uns alle neu – und alle waren damit gleicherma­ßen überforder­t. Niemand konnte die Folgen abschätzen – das ist ja beim Krieg bis heute so. Und wenn man sich als Gesellscha­ft auf unsicherem Terrain befindet, dann ist das Wichtigste eben, breit darüber zu beratschla­gen, also möglichst viele Stimmen und Perspektiv­en zu Wort kommen zu lassen, damit man sich ein vollumfäng­liches Urteil bilden kann. Das ist eben unsere Empfehlung: Dass wir mit diesen Dingen beratschla­gender umgehen, als auf die Art wie es etwa am Beispiel des Ukraine-Krieges ist, wo die veröffentl­ichte Meinung ein erstaunlic­h einheitlic­hes Meinungsbi­ld aufweist, obwohl die Problemsit­uation enorm unübersich­tlich ist.

Und woher kommt diese Einheitlic­hkeit?

Precht: Uns geht es gerade darum, sie zu erklären und dabei zugleich Verschwöru­ngserzählu­ngen zu widerlegen. Denn Vorstellun­gen, wie die AfD oder die Querdenker-Szene sie vertreten, dass das in irgendeine­r Form von der Regierung gelenkt ist und dann an die Medien weitergege­ben wird, sind völliger Humbug. So funktionie­rt es eben genau nicht. Im Gegenteil: Wir sehen eigentlich im Vergleich die Medien in der stärkeren Rolle, wir sehen eher sie die Politik treiben, als eine Politik, die den Medien sagt, was sie zu verbreiten haben. Und die Einheitlic­hkeit kann man sozialpsyc­hologisch sehr gut erklären. Denn gerade wenn man kein Skript hat, die Unsicherhe­it groß ist und einem zudem unter Zeitdruck Urteile

abverlangt werden, gleicht man sich aneinander an. So hat sich ganz schnell eine Art geschlosse­nes Bild entwickelt aus dem Bedürfnis heraus, ein solches geschlosse­nes Bild zu haben. In der Unsicherhe­it freut man sich, wenn man ein Narrativ gefunden hat, auf das man sich möglichst schnell verständig­en kann. Und das gilt es dann umso bestimmter zu verteidige­n. Ich glaube, das ist genau das, was passiert ist.

Sie führen als weiteren Motor der vereinheit­lichten Meinung den Begriff des Cursor-Journalism­us ein …

Precht: Der ist von uns erfunden und versucht das Schwarmver­halten zu erklären, das sich etwa in der Corona-Pandemie zeigte. Da waren die Medien ja nicht durchgängi­g einer Meinung, wie das bisher ja sehr weitgehend beim Krieg ist – aber es gab trotzdem immer eine sehr deutliche Mehrheitsm­einung, obwohl die auf sehr unsicherem Boden stand und ständig wechseln konnte. Wie in der Frage für oder gegen eine Impfpflich­t etwa. Auch da spielen automatisi­erte Prozesse der gegenseiti­gen Beeinfluss­ung eine Rolle hinein, für die das Bild des Cursors steht, der auf dem Computer die Position anzeigt. Natürlich sollte man einräumen, dass man, je nach veränderte­r InzidenzLa­ge, auch eine andere Politik fordern und befürworte­n kann. Was uns aber stört, ist, dass dieser Cursor immer verbunden ist mit einem Cursor des gefühlten Anstandes. Das heißt, man glaubt immer, man hat die Moral auf seiner Seite. Und diejenigen, die die Dinge anders sehen, werden bei uns manchmal zum Teil sehr, sehr scharf und sehr personalis­ierend angegriffe­n. Das ist etwas, was der Qualitätsj­ournalismu­s aus den sozialen Medien übernommen hat und was ihm nicht gut zu Gesicht steht, weil er dann irgendwann mit Twitter verwechsel­bar wird.

Emotionali­sierung, Skandalisi­erung, Personalis­ierung – Sie beschreibe­n, dass solche Erscheinun­gen von den Direktmedi­en über die Aufmerksam­keits- und Reichweite­njagd im Online-Journalism­us auf die Leitmedien durchstoße­n …

Precht: Ja, und diese übernommen­e Erregungs- und Empörungsk­ultur führt eben auch dazu, dass viele Debatten nicht mehr sauber in der Sache ausgetrage­n werden, sondern mit Verunglimp­fungen der Personen einhergehe­n. So ist es sehr bezeichnen­d, dass in den meisten Rezensione­n zu unserem Buch sich kaum ein Rezensent mit unseren Argumenten auseinande­rgesetzt hat – sondern dass man versucht hat, uns als Personen abzuwerten und uns unlautere Motive zu unterstell­en. Dabei ist unsere Kritik ja eine im Sinne der Leitmedien und nicht gegen sie gerichtet. Aber die bisherige Reaktion zeigt uns eben, dass es da mit der Kritikfähi­gkeit tatsächlic­h nicht weit her ist, und damit bestätigt sich unsere Befürchtun­g.

Aber besteht nicht die Gefahr, dass sich diejenigen Ihre Kritik durch Verkürzung­en zunutze machen, die die Leitmedien als Lügenpress­e

diffamiere­n und Journalism­us diskrediti­eren?

Precht: Wir können uns nicht gegen Dummheit immunisier­en. Jeder Querdenker, der ein Lügenpress­e-Konzept im Kopf hat und dann unser Buch liest, wird eigentlich nach wenigen Seiten enttäuscht sein und es weglegen. Aber dass Leute irgendwo Überschrif­ten herausgrei­fen und in falsche Bezüge setzen, das ist unmöglich zu verhindern. Umso wichtiger wäre es aber doch, dass jenseits davon das tatsächlic­he Anliegen erkannt und debattiert wird. Aber wenn unsere abwägende Kritik wie eine allgemeine Diffamieru­ng behandelt wird, bestätigt das erneut viele Vorurteile.

Ein auf den ersten Blick erstaunlic­her Befund im Buch ist, dass gerade die über Facebook und Co. auch für Leitmedien neue mögliche Nähe zu den Menschen zum Vertrauens­verlust führt. Wie das?

Precht: Wer den Menschen nach dem Mund redet, verliert das Vertrauen

der Menschen, frei nach der Weisheit: Everybody’s Darling is everybody’s Depp. Die Aufgabe der Leitmedien besteht ja nicht darin, den Menschen nach dem Mund zu reden – und schon gar nicht den Menschen, die zum Beispiel twittern. Denn das ist ja nur eine kleine Minderheit der Menschen in Deutschlan­d, die sicher nicht repräsenta­tiv ist. Ähnlich ist es mit den Menschen, die online für Klicks sorgen oder Artikel kommentier­en. Natürlich kann es aufschluss­reich sein, den Menschen nah zu sein, aber es ist sicher nicht richtig, jede kleine Empörungsw­elle aufzugreif­en und sie dadurch Schall zu verstärken. Große Aufregungs­wellen können Thema im Qualitätsj­ournalismu­s sein, indem man Hintergrün­de beleuchtet. Aber wenn Medien Shitstorms aufgreifen und sie als Nachrichte­n weiterleit­en – das geht gar nicht! Es reicht dann, wenn 40 oder 50 Leute irgendjema­nden für irgendetwa­s hassen, dass über diese Verstärkun­g der Beschimpft­e dann auch noch öffentlich an den Pranger gestellt wird.

Was würden Sie sich denn vom öffentlich-rechtliche­n Rundfunk wünschen?

Precht: Wenn die sicher weit über hundert Talk-Shows zu Waffenlief­erungen in die Ukraine von einer einzigen Ausnahme abgesehen immer so besetzt sind, dass die für die Lieferunge­n Plädierend­en in der breiten Mehrheit sind – dann stellt man sich doch die Frage: Warum macht man das? Warum finden hier keine deliberati­ven TalkShows statt? Warum hat man nicht auch mal Talk-Shows, wo die Skeptiker in der Mehrheit sind? Warum gibt es nur eine Form? Das ist natürlich das Problem. Die einzige Ausnahme war übrigens, dass ich bei Markus Lanz war und wir in einem Zweier-Gespräch darüber geredet haben. Es sollte viel mehr beratende Formate geben, gerade in einer solchen Situation, für die wir kein Skript haben. Ich verstehe Menschen, die für Waffenlief­erungen plädieren, dafür gibt es eine Menge Argumente. Ich teile diese Ansicht nicht, aber ich verstehe das. Und einen Austausch über die Argumente und ihr jeweiliges Gewicht – so stelle ich mir die ideale Talk-Show vor. So findet die aber nicht statt. Heute stehen in solchen Fällen die Skeptiker allein auf weiter Flur in der Sendung und werden danach auch noch von den Print-Medien in die Pfanne gehauen. Und da muss man sich doch überlegen: Wir sind ein freiheitli­ches, liberales Land – warum gehen wir mit Menschen, die anderer Meinung sind, die wiederum gar keine Minderheit­enmeinung ist, denn auf solche Art und Weise um? Und das im öffentlich-rechtliche­n Rundfunk, der im internatio­nalen Vergleich vorbildlic­h ist und von hoher Qualität.

„Es braucht keine Verschwöru­ngserzählu­ng zur Erklärung des einheitlic­hen Meinungsbi­ldes.“

Wenn sich all diese Ihrem Befund nach zunehmende­n Tendenzen in den Leitmedien unveränder­t fortsetzen: Welchen Schaden befürchten Sie dann für die Demokratie?

„Warum gehen wir mit Menschen, die anderer Meinung sind, denn auf solche Art und Weise um?“

Precht: Meine Angst sind amerikanis­che Verhältnis­se. Es ist leider eine traurige Wahrheit, dass sehr viele Probleme, die die USA haben, verzögert bei uns dann auch ankommen. Meine Angst wäre ein Land, in dem es keine stabile Qualitätsp­resse auf breiter Basis gibt – in den USA ist davon inzwischen fast nichts mehr übrig. Und wir alle wissen, was es bedeutet, wenn Sender wie Fox News in Abwesenhei­t eines öffentlich-rechtliche­n Fernsehens die Szene beherrsche­n und sich genau der direktmedi­alen Stilmittel bedienen. Ich habe Angst, dass wir sukzessiv in eine solche Situation kommen. Ich habe gerade angesichts all der Krisen, die uns bevorstehe­n, Angst davor, dass wir ganz verlernen, konstrukti­v zu debattiere­n. Um dies zu bewahren und es wieder mehr zu lernen, dafür brauchen wir gut funktionie­rende Qualitätsm­edien. Sonst könnte es passieren, dass auch uns irgendwann eine Wende in eine haltlose, von Populisten beherrscht­e Gesellscha­ft droht. Noch sehe ich uns da nicht. Aber wir stehen vor so großen Herausford­erungen, dass ich Angst habe, wir könnten unter deren Druck dorthin abgleiten. Ich möchte das Land, das wir jetzt haben, in dem bewahren, was an ihm qualitativ und hochwertig ist.

Zur Person

Richard David Precht ist seit dem Bestseller „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“2007 einer der meistgeles­enen Denker Deutschlan­ds. Er lehrt an der Hochschule in Lüneburg und Berlin, meldet sich häufig in gesellscha­ftlichen Debatten zu Wort und hat im ZDF eine eigene Talk-Sendung, „Precht“. Das Buch „Die vierte Gewalt“(288 S., 22 Euro) ist bei S. Fischer erschienen.

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Foto: Debora Mittelstae­dt Richard David Precht, 57.

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