Lektüreempfehlungen in Sachen Europa
Wer sich Europa erlesen möchte, hat eine wirklich große Auswahl. Gerade, um die osteuropäische Perspektive besser zu verstehen, ist eines der aufschlussreichsten Bücher nach wie vor „Europadämmerung“(Suhrkamp) von Ivan Krastev, ein extrem dichter Essay, in dem der Bulgare die Bruchlinien des Kontinents markiert. Krastev ist Politologe, Politikberater und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.
Wer länger unterwegs sein möchte, kann das mit Geert Mak sein. Der weit über die Niederlande hinaus bekannte Journalist und Sachbuchautor hat unter anderem zwei große historische Analysen vorgelegt: „In Europa – Eine Reise durch das 20. Jahrhundert“und – zwei Jahrzehnte später: „Große Erwartungen – Auf den Spuren des Europäischen Traums“(beide Siedler-Verlag). Auf seiner zweiten großen Reise ist man mit Mak zu Beginn im norwegischen Kirkenes, 50 Kilometer entfernt von der russischen Grenze. Kirkenes sei das „Zentrum der Peripherie Europas“, eine Art Testlabor für das besondere Verhältnis zwischen Russland und Europa, sagt der Chefredakteur der örtlichen Internetzeitung zu Mak. Und fügt hinzu: „Alle Veränderungen spüren wir hier zuerst, viel früher als die Menschen in Berlin, Washington oder Moskau.“Das war 2018.
Mak holt aber viel weiter aus. Sein Buch ist eine sehr kritische Bestandsaufnahme der Zeit zwischen 1999 und 2019, gerade wenn es um die Ursachen (Gier) und Verwerfungen der Banken-, Schulden- und Eurokrise geht. Zugleich lernt man sehr viele Europäer kennen, denen man gerne persönlich die Hand schütteln würde. Mak erhielt 2008 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.
Sehr zu empfehlen ist – immer, aber hier besonders – der bereits vielfach ausgezeichnete Deutsch-Iraner Navid Kermani: „Entlang den Gräben – Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan“(Beck). Kermani macht sich von seiner Heimatstadt Köln auf nach Isfahan, wo seine Eltern herkamen. Dabei führt ihn sein Weg auch durch die Ukraine.
Schließlich sei hier auf den für das Interview (siehe nächste Seite) zentralen Essay von Peter Sloterdijk hingewiesen. Unter dem Titel „Falls Europa erwacht – Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence“hat Sloterdijk 1994 eine immer noch aktuelle Analyse vorgelegt. Der Philosoph Sloterdijk, geboren 1947, ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Publizisten. Er ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, die er bis 2015 als Rektor leitete. Zuletzt erschien von ihm „Wer noch kein Grau gedacht hat – Eine Farbenlehre“(Suhrkamp). (kuep)