Ist Europa erwacht, Herr Sloterdijk?
katastrophalen Staatshaushalt der Monarchie zu sanieren. Man kann sich nicht leicht vorstellen, wie nationale Gläubigerversammlungen heute verlaufen würden.
Wohin könnten sie führen?
Sloterdijk: Dafür besitzt niemand dunkle Fantasie genug. Italien hat es mit 2,6 Billionen öffentlicher Schulden zu tun, das heißt 45,5 tausend Euro pro Kopf, Säuglinge und Greise mitgerechnet. In Frankreich ist mit 2,9 Billionen die Lage nicht besser. Man wird sich hüten, den in Haft genommenen Bürgern die Situation zu erklären.
Was kann man tun, um die Lage zu stabilisieren?
Sloterdijk: Vor allem muss man den Satz vom ausgeschlossenen Ernstfall weiter ernst nehmen. Der impliziert den Satz vom ausgeschlossenen baldigen Zahltag – besser: den Satz der Tilgung in sehr ferner Zukunft. Dies vorausgesetzt, ist die aktuelle Politik der Hilfspakete, der Ausgleichszahlungen usw., die die Bundesregierung praktiziert, wie auch die der Franzosen und Briten mit ihren Beschlüssen zur Energiepreisdeckelung, eine sinnvolle Option. Ob sie ausreicht, um die öffentliche Unzufriedenheit in Grenzen zu halten, muss man abwarten.
Man sorgt sich aber nicht nur um explodierende Energiepreise!
Sloterdijk: Gewiss. Bei einem noch höherem Vogelflug erkennt man die prekäre Gesamtlage der Demokratien insgesamt: Sie sehen sich aufgrund ihrer unvermeidlichen basalen Fehlkonstruktion durchwegs intern geschwächt: Die Fiktion einer Repräsentation des „Volks“in Parlamenten wird in manchen Ländern fadenscheinig bis zum Selbstdementi. Gelegentlich fühlt sich die Hälfte einer Population nicht repräsentiert, in den USA ist das seit den Tagen Trumps an bürgerkriegsähnlichen Spannungen zu erkennen. Die italienische Demokratie spielt zur Stunde offen mit einem leisen Selbstmord, die französische ist intern durch national-xenophobische Regungen bedroht, auch durch den chronischen linken Surrealismus. Man könnte, wenn’s nicht vermessen klänge, sagen, die einzige repräsentative Demokratie, die halbwegs funktioniert, sei die deutsche. Indessen besitzt die einzige funktionsfähige direkte Demokratie auf der Erde, die der Schweiz, ein historisch gewachsenes Modell, an dessen Verallgemeinerung bis auf Weiteres nicht zu denken ist. Ich gestehe, ich bin ein großer Schweiz-Bewunderer, und ich hielte es für ein Debakel, würde sich die Schweiz zum Standard der umgebenden EU-Nationen herablassen. Die demokratische Welt braucht sie als die musterhafte Ausnahme von ihren gemeinsamen Übeln.
Warum?
Sloterdijk: Sehen Sie, was wir die demokratische Lebensform nennen, beschreibt ein System, in dem eine große Mehrheit der Populationen von der aktiven Teilhabe am politischen Leben entlastet ist. Das heißt – um die Urlaubsmetapher nochmals zu bemühen – die repräsentativen Demokratien haben für die meisten eine weitgehend privatistische, ziemlich urlauberische Lebensform möglich gemacht. Durch Berufspolitik, Repräsentationssystem und Dauerentertainment sind die zahlreichen Einzelnen vom Zwang zur politischen Mitarbeit entlastet. In der Schweiz sieht es anders aus. Der Privatismus ist weniger ausgeprägt, weil man ständig an die Urnen gebeten wird. Man soll durchaus über Gott und die Welt eine klare Meinung haben, ebenso über die Kanalisation am Dorfrand und eine neue Glocke für den Kirchturm. Das Ignorieren der größeren und kleineren Zusammenhänge ist in der Schweizer Atmosphäre weniger zulässig. Im deutschen modus vivendi ist der Faktor Urlaub vom großen Ganzen um ein Vielfaches stärker ausgeprägt als im Appenzeller Land.
An den Modellen direkter Demokratien wird kritisiert, dass die Verantwortlichkeit zurückbleibt. Wenn alle zuständig sind, ist es am Ende keiner gewesen.
Sloterdijk: Vorsicht. Das Problem der Unverantwortlichkeit betrifft die großen Gemeinwesen insgesamt viel stärker als die kleinen. Der Grund hierfür liegt in der neueren Geschichte. Die Monarchien Europas haben den auf sie folgenden Republiken ein unlösbares Größenproblem in die Wiege gelegt. Als Italien, zum Beispiel – nach dem Risorgimento –, endlich eine durch Monarchie geeinte Nation wurde, war das Land schon definitiv zu divers, zu heterogen, zu groß, um eine glaubwürdige Demokratie sein zu können – der Süden ist bis heute fast eine Exklave geblieben. Auf der anderen Seite war die „Demokratie“– sei es als republikanische, sei es als konstitutionell-monarchische – die einzige verfügbare Staatsform für die modernen Flächenstaaten. Im Grunde sind alle modernen Nationalstaaten zu groß für vernünftige direktdemokratische Regierungen. Also drängt sich das Repräsentationssystem auf, zu welchem fürs Erste keine glaubwürdige Alternative in Sicht ist. Eben dieses Repräsentationssystem führt oft dazu, dass sich große Teile der Bevölkerungen nicht vertreten fühlen – die Vernachlässigten liebäugeln gern mit Regressionen in populistische Diktatur. An diesem Systemfehler, dieser dunklen Materie der Demokratien, muss über kurz oder lang mit neuen Ansätzen gearbeitet werden.
Was hieße das mit Blick auf Europa?
Sloterdijk: Europa ist – wie gesagt – vom ursprünglichen Design her eine TopDown-Konstruktion gewesen und geblieben. Das Populärwerden des Konstrukts war seit jeher eine sekundäre Sorge. Die bestehenden Systeme wurden nach und nach mit einem zweiten Stockwerk überbaut, das ergab Repräsentationen von Repräsentationen – mit der Konsequenz, dass in Brüssel und Straßburg auf den oberen Etagen nur Delegierte von Regierungen mit ihresgleichen zusammenkommen. Die Populationen bleiben fern und weit unten, fast unsichtbar. In einem pyramidalen System ist das nicht zu vermeiden. Mir scheint, an dieser Konstruktion ist aufs Ganze gesehen nicht viel zu ändern. Ob sich das europäische Parlament vitalisieren lässt? Kein Mensch weiß es. Man muss die Dinge pragmatisch so gut wie möglich handhaben. Und man muss hoffen, dass Schocks, wie wir im Moment einen erleben, die Teilnehmer hin und wieder daran erinnern, dass sie fast ausnahmslos sehr viel zu verlieren haben. Bei einer Sezession gewinnt man außer trotzigen Illusionen nichts – das ist zur Stunde sogar den Polen klar, so mürrisch sie sich geben.
Die Briten hat das nicht aufgehalten.
Sloterdijk: Die waren nie so ganz dabei – was natürlich mit ihrem ungelösten imperialen Komplex zu tun hat. Wenn man mehr als 50 Kolonien in aller Welt besaß und sich als Spitze der Zivilisation empfand, dann musste für die Briten nach 1945 jeder Tag zur Kränkung werden. Und Mitgliedschaft in der Europäischen Union die Kränkung aller Kränkungen. Man sah sich mit einem Mal dem Übergewicht der kontinentalen Mitglieder gegenüber, mitsamt dem Gewimmel der Kleinen, die selbstbewusst auftreten, im Bewusstsein dessen, dass sie fast alles blockieren könnten, was ihnen nicht in den Kram passt. Die EU ist ein schwer navigierbarer Riesentanker. Das Von-Bord-Gehen entsprach in gewisser Weise dem britischen Traditionsgefühl.
Bei der Lektüre von „Falls Europa erwacht“fiel mir auf, dass Sie eine der größten Errungenschaften, die das politische Vakuum der letzten Jahrzehnte mit sich brachte, den Frieden, nicht explizit erwähnen. Braucht Europa eine eigene Armee? Und besteht der Zivilisationsbruch dieser Zeitenwende vor allen Dingen darin, dass man sich wieder mit der Frage auseinandersetzen muss, ob man jetzt selbst auch töten könnte?
Sloterdijk: Das ist eine Frage, die nur dann auftauchen würde, wenn wir wieder auf das Prinzip der Volksarmeen zurückgreifen wollten. Wir haben uns in Europa, wie es die Amerikaner nach Vietnam vorgemacht haben, zu dem Modell der Berufsarmeen entschlossen. Folglich muss die Frage des „Tötenkönnens“nicht an die gesamte männliche Bevölkerung, sondern an diejenigen gerichtet werden, die das von Berufs wegen können müssten – da kämen auch Soldatinnen ins Gespräch. Wir haben hierzulande Friedensverhältnisse erlebt, die bald von der dritten in die vierte Generation gehen. In der Folge ist eine ziemlich radikale Entmilitarisierung des Denkens und Empfindens eingetreten. Das Männlichkeitsbild hat sich gesellschaftsweit abgerüstet, es ist in Richtung auf hermaphroditische Werte verschoben worden. Das konnte man übrigens schon in den 60er Jahren an den Beatles beobachten, die ganz unmissverständlich eine hermaphroditische Aura verbreiteten. Der europäische Mann ist als Konsument von Kosmetika entdeckt worden.
Parfümierte Männer sind unfähig zu kämpfen und zu töten?
Sloterdijk: Das EU-Europa hat im Moment, wenn ich richtig zähle, 27 Armeen, kleine und größere. Der US-Strategietheoretiker Edward Luttwak erklärte jüngst, wären deren Budgets und Truppen unter einem Kommando vereinigt, würden sie die Nachfolge-Organisationen der stolzen Roten Armee weit in den Schatten stellen, nicht im nuklearen Bereich, aber überall sonst. Könnte man in Europa ein agiles Korps ausrüsten, klein genug, um nicht zu provozieren, effektiv genug, um einen glaubwürdigen Sicherheitseffekt zu erzielen, so wäre das klug und angemessen.
Noch sprechen die Relikte des Souveränismus in den Nationen dagegen. Ansonsten glaube ich eher an die tendenzielle Entbehrlichkeit allzu großer Anstrengungen. Nur weil Russland im Augenblick in einer psychopathischen Identitätskrise steckt, dürfen die Europäer nicht in eine symmetrische Neurose geraten. In der Nato gibt es hoch professionalisierte militärische Intelligenzen. Dass sich die Bundeswehr in einem beklagenswerten Zustand befindet, das mag für bestimmte Bereiche richtig sein, doch, dass die Bundesrepublik militärisch ganz wehrlos sei, ist auch nicht wahr. Vor allem ist sie nicht mit einer präzisen Bedrohung konfrontiert. Die Vorstellung, die Russen könnten eines baldigen Tages in Polen einmarschieren, dann an den Rhein stürmen, um kurz danach in Paris zu stehen, die halte ich für eine Fantasie von Leuten, die Gaming mit politischem Denken verwechseln.
Aber nur unter der Voraussetzung, dass die Nato nicht wieder hirntot wird.
„Man könnte, wenn’s nicht vermessen klänge, sagen, die einzige repräsentative Demokratie, die halbwegs funktioniert, sei die deutsche.“
Sloterdijk: Ja sicher, die Nato hat durch die Ukraine-Krise ein zweites Leben eingehaucht bekommen. Macron hat seine Hyperbel von damals stillschweigend revidiert. Alles spricht dafür, dass Putin sich mit dem Ukraine-Feldzug übernimmt. Wenn er anfängt, bei den Nordkoreanern Munition zu kaufen, ist das kein Zeichen von Stärke und langem Atem. Ich hielte es für frivol, wollte man wegen Putins plumpem Anschlags auf die Ukraine in den westlichen Ländern einen Imperativ zur neuen Hochrüstung verkünden. Die Bundeswehr braucht Nachbesserungen, darüber ist man sich einig.
Nachbesserung ist möglicherweise ein bisschen untertrieben. 100 Milliarden Sondervermögen jetzt, und dann jedes Jahr vergleichbare Summen, um die Funktionsfähigkeit aufrecht zu erhalten.
„Nur weil Russland in einer psychopathischen Identitätskrise steckt, dürfen die Europäer nicht in eine symmetrische Neurose geraten.“
Sloterdijk: Ja, ja. Alles richtig. Ein neues Bewusstsein von Bereitschaft zur Rüstung liegt in der Luft, auch hierzulande. Johnson wollte, bevor er abgewählt wurde, die britischen Nuklearwaffen um ein Drittel aufstocken. Liz Truss möchte den Anteil der Rüstungsausgaben von zwei auf drei Prozent des Nationalprodukts erhöhen. Das zeigt, auch Angehörige des schönen Geschlechts können am Tage ihres Amtsantritts militärisch posieren. Die Neigung, Posen mit Plänen gleichzusetzen, ist verbreitet.
Ich hätte Sie – mit Blick auf die Lage der EU – etwas weniger gelassen erwartet. In der Summe sagen Sie doch: Mit dem, was da ist, kann man arbeiten.
Sloterdijk: Ich wende auf Europas Zustand eine sozialpsychologisch relevante Beobachtung an, die sich fast immer bewahrheitet: Bei Befragungen sind die meisten ziemlich pessimistisch fürs Ganze, aber eher optimistisch für die Privatsphäre. Ich ziehe aus dieser Differenz die einzig mögliche Konsequenz: Alle begreifen in letzter Instanz, dass sie nicht wenig zu verlieren haben. Was sich in Bezug aufs Ganze artikuliert, ist zumeist eine Art von Luxuspessimismus. Die meisten Europäer dürften inzwischen verstanden haben, dass ein Gutteil ihrer wesentlichen Lebensvorteile nicht so sehr durch ihren Nationalstandort gewonnen werden, sondern durch die Zugehörigkeit ihrer Länder zum europäischen Projekt.