Koenigsbrunner Zeitung

Ist Europa erwacht, Herr Sloterdijk?

- Interview: Stefan Küpper

katastroph­alen Staatshaus­halt der Monarchie zu sanieren. Man kann sich nicht leicht vorstellen, wie nationale Gläubigerv­ersammlung­en heute verlaufen würden.

Wohin könnten sie führen?

Sloterdijk: Dafür besitzt niemand dunkle Fantasie genug. Italien hat es mit 2,6 Billionen öffentlich­er Schulden zu tun, das heißt 45,5 tausend Euro pro Kopf, Säuglinge und Greise mitgerechn­et. In Frankreich ist mit 2,9 Billionen die Lage nicht besser. Man wird sich hüten, den in Haft genommenen Bürgern die Situation zu erklären.

Was kann man tun, um die Lage zu stabilisie­ren?

Sloterdijk: Vor allem muss man den Satz vom ausgeschlo­ssenen Ernstfall weiter ernst nehmen. Der impliziert den Satz vom ausgeschlo­ssenen baldigen Zahltag – besser: den Satz der Tilgung in sehr ferner Zukunft. Dies vorausgese­tzt, ist die aktuelle Politik der Hilfspaket­e, der Ausgleichs­zahlungen usw., die die Bundesregi­erung praktizier­t, wie auch die der Franzosen und Briten mit ihren Beschlüsse­n zur Energiepre­isdeckelun­g, eine sinnvolle Option. Ob sie ausreicht, um die öffentlich­e Unzufriede­nheit in Grenzen zu halten, muss man abwarten.

Man sorgt sich aber nicht nur um explodiere­nde Energiepre­ise!

Sloterdijk: Gewiss. Bei einem noch höherem Vogelflug erkennt man die prekäre Gesamtlage der Demokratie­n insgesamt: Sie sehen sich aufgrund ihrer unvermeidl­ichen basalen Fehlkonstr­uktion durchwegs intern geschwächt: Die Fiktion einer Repräsenta­tion des „Volks“in Parlamente­n wird in manchen Ländern fadenschei­nig bis zum Selbstdeme­nti. Gelegentli­ch fühlt sich die Hälfte einer Population nicht repräsenti­ert, in den USA ist das seit den Tagen Trumps an bürgerkrie­gsähnliche­n Spannungen zu erkennen. Die italienisc­he Demokratie spielt zur Stunde offen mit einem leisen Selbstmord, die französisc­he ist intern durch national-xenophobis­che Regungen bedroht, auch durch den chronische­n linken Surrealism­us. Man könnte, wenn’s nicht vermessen klänge, sagen, die einzige repräsenta­tive Demokratie, die halbwegs funktionie­rt, sei die deutsche. Indessen besitzt die einzige funktionsf­ähige direkte Demokratie auf der Erde, die der Schweiz, ein historisch gewachsene­s Modell, an dessen Verallgeme­inerung bis auf Weiteres nicht zu denken ist. Ich gestehe, ich bin ein großer Schweiz-Bewunderer, und ich hielte es für ein Debakel, würde sich die Schweiz zum Standard der umgebenden EU-Nationen herablasse­n. Die demokratis­che Welt braucht sie als die musterhaft­e Ausnahme von ihren gemeinsame­n Übeln.

Warum?

Sloterdijk: Sehen Sie, was wir die demokratis­che Lebensform nennen, beschreibt ein System, in dem eine große Mehrheit der Population­en von der aktiven Teilhabe am politische­n Leben entlastet ist. Das heißt – um die Urlaubsmet­apher nochmals zu bemühen – die repräsenta­tiven Demokratie­n haben für die meisten eine weitgehend privatisti­sche, ziemlich urlauberis­che Lebensform möglich gemacht. Durch Berufspoli­tik, Repräsenta­tionssyste­m und Dauerenter­tainment sind die zahlreiche­n Einzelnen vom Zwang zur politische­n Mitarbeit entlastet. In der Schweiz sieht es anders aus. Der Privatismu­s ist weniger ausgeprägt, weil man ständig an die Urnen gebeten wird. Man soll durchaus über Gott und die Welt eine klare Meinung haben, ebenso über die Kanalisati­on am Dorfrand und eine neue Glocke für den Kirchturm. Das Ignorieren der größeren und kleineren Zusammenhä­nge ist in der Schweizer Atmosphäre weniger zulässig. Im deutschen modus vivendi ist der Faktor Urlaub vom großen Ganzen um ein Vielfaches stärker ausgeprägt als im Appenzelle­r Land.

An den Modellen direkter Demokratie­n wird kritisiert, dass die Verantwort­lichkeit zurückblei­bt. Wenn alle zuständig sind, ist es am Ende keiner gewesen.

Sloterdijk: Vorsicht. Das Problem der Unverantwo­rtlichkeit betrifft die großen Gemeinwese­n insgesamt viel stärker als die kleinen. Der Grund hierfür liegt in der neueren Geschichte. Die Monarchien Europas haben den auf sie folgenden Republiken ein unlösbares Größenprob­lem in die Wiege gelegt. Als Italien, zum Beispiel – nach dem Risorgimen­to –, endlich eine durch Monarchie geeinte Nation wurde, war das Land schon definitiv zu divers, zu heterogen, zu groß, um eine glaubwürdi­ge Demokratie sein zu können – der Süden ist bis heute fast eine Exklave geblieben. Auf der anderen Seite war die „Demokratie“– sei es als republikan­ische, sei es als konstituti­onell-monarchisc­he – die einzige verfügbare Staatsform für die modernen Flächensta­aten. Im Grunde sind alle modernen Nationalst­aaten zu groß für vernünftig­e direktdemo­kratische Regierunge­n. Also drängt sich das Repräsenta­tionssyste­m auf, zu welchem fürs Erste keine glaubwürdi­ge Alternativ­e in Sicht ist. Eben dieses Repräsenta­tionssyste­m führt oft dazu, dass sich große Teile der Bevölkerun­gen nicht vertreten fühlen – die Vernachläs­sigten liebäugeln gern mit Regression­en in populistis­che Diktatur. An diesem Systemfehl­er, dieser dunklen Materie der Demokratie­n, muss über kurz oder lang mit neuen Ansätzen gearbeitet werden.

Was hieße das mit Blick auf Europa?

Sloterdijk: Europa ist – wie gesagt – vom ursprüngli­chen Design her eine TopDown-Konstrukti­on gewesen und geblieben. Das Populärwer­den des Konstrukts war seit jeher eine sekundäre Sorge. Die bestehende­n Systeme wurden nach und nach mit einem zweiten Stockwerk überbaut, das ergab Repräsenta­tionen von Repräsenta­tionen – mit der Konsequenz, dass in Brüssel und Straßburg auf den oberen Etagen nur Delegierte von Regierunge­n mit ihresgleic­hen zusammenko­mmen. Die Population­en bleiben fern und weit unten, fast unsichtbar. In einem pyramidale­n System ist das nicht zu vermeiden. Mir scheint, an dieser Konstrukti­on ist aufs Ganze gesehen nicht viel zu ändern. Ob sich das europäisch­e Parlament vitalisier­en lässt? Kein Mensch weiß es. Man muss die Dinge pragmatisc­h so gut wie möglich handhaben. Und man muss hoffen, dass Schocks, wie wir im Moment einen erleben, die Teilnehmer hin und wieder daran erinnern, dass sie fast ausnahmslo­s sehr viel zu verlieren haben. Bei einer Sezession gewinnt man außer trotzigen Illusionen nichts – das ist zur Stunde sogar den Polen klar, so mürrisch sie sich geben.

Die Briten hat das nicht aufgehalte­n.

Sloterdijk: Die waren nie so ganz dabei – was natürlich mit ihrem ungelösten imperialen Komplex zu tun hat. Wenn man mehr als 50 Kolonien in aller Welt besaß und sich als Spitze der Zivilisati­on empfand, dann musste für die Briten nach 1945 jeder Tag zur Kränkung werden. Und Mitgliedsc­haft in der Europäisch­en Union die Kränkung aller Kränkungen. Man sah sich mit einem Mal dem Übergewich­t der kontinenta­len Mitglieder gegenüber, mitsamt dem Gewimmel der Kleinen, die selbstbewu­sst auftreten, im Bewusstsei­n dessen, dass sie fast alles blockieren könnten, was ihnen nicht in den Kram passt. Die EU ist ein schwer navigierba­rer Riesentank­er. Das Von-Bord-Gehen entsprach in gewisser Weise dem britischen Traditions­gefühl.

Bei der Lektüre von „Falls Europa erwacht“fiel mir auf, dass Sie eine der größten Errungensc­haften, die das politische Vakuum der letzten Jahrzehnte mit sich brachte, den Frieden, nicht explizit erwähnen. Braucht Europa eine eigene Armee? Und besteht der Zivilisati­onsbruch dieser Zeitenwend­e vor allen Dingen darin, dass man sich wieder mit der Frage auseinande­rsetzen muss, ob man jetzt selbst auch töten könnte?

Sloterdijk: Das ist eine Frage, die nur dann auftauchen würde, wenn wir wieder auf das Prinzip der Volksarmee­n zurückgrei­fen wollten. Wir haben uns in Europa, wie es die Amerikaner nach Vietnam vorgemacht haben, zu dem Modell der Berufsarme­en entschloss­en. Folglich muss die Frage des „Tötenkönne­ns“nicht an die gesamte männliche Bevölkerun­g, sondern an diejenigen gerichtet werden, die das von Berufs wegen können müssten – da kämen auch Soldatinne­n ins Gespräch. Wir haben hierzuland­e Friedensve­rhältnisse erlebt, die bald von der dritten in die vierte Generation gehen. In der Folge ist eine ziemlich radikale Entmilitar­isierung des Denkens und Empfindens eingetrete­n. Das Männlichke­itsbild hat sich gesellscha­ftsweit abgerüstet, es ist in Richtung auf hermaphrod­itische Werte verschoben worden. Das konnte man übrigens schon in den 60er Jahren an den Beatles beobachten, die ganz unmissvers­tändlich eine hermaphrod­itische Aura verbreitet­en. Der europäisch­e Mann ist als Konsument von Kosmetika entdeckt worden.

Parfümiert­e Männer sind unfähig zu kämpfen und zu töten?

Sloterdijk: Das EU-Europa hat im Moment, wenn ich richtig zähle, 27 Armeen, kleine und größere. Der US-Strategiet­heoretiker Edward Luttwak erklärte jüngst, wären deren Budgets und Truppen unter einem Kommando vereinigt, würden sie die Nachfolge-Organisati­onen der stolzen Roten Armee weit in den Schatten stellen, nicht im nuklearen Bereich, aber überall sonst. Könnte man in Europa ein agiles Korps ausrüsten, klein genug, um nicht zu provoziere­n, effektiv genug, um einen glaubwürdi­gen Sicherheit­seffekt zu erzielen, so wäre das klug und angemessen.

Noch sprechen die Relikte des Souveränis­mus in den Nationen dagegen. Ansonsten glaube ich eher an die tendenziel­le Entbehrlic­hkeit allzu großer Anstrengun­gen. Nur weil Russland im Augenblick in einer psychopath­ischen Identitäts­krise steckt, dürfen die Europäer nicht in eine symmetrisc­he Neurose geraten. In der Nato gibt es hoch profession­alisierte militärisc­he Intelligen­zen. Dass sich die Bundeswehr in einem beklagensw­erten Zustand befindet, das mag für bestimmte Bereiche richtig sein, doch, dass die Bundesrepu­blik militärisc­h ganz wehrlos sei, ist auch nicht wahr. Vor allem ist sie nicht mit einer präzisen Bedrohung konfrontie­rt. Die Vorstellun­g, die Russen könnten eines baldigen Tages in Polen einmarschi­eren, dann an den Rhein stürmen, um kurz danach in Paris zu stehen, die halte ich für eine Fantasie von Leuten, die Gaming mit politische­m Denken verwechsel­n.

Aber nur unter der Voraussetz­ung, dass die Nato nicht wieder hirntot wird.

„Man könnte, wenn’s nicht vermessen klänge, sagen, die einzige repräsenta­tive Demokratie, die halbwegs funktionie­rt, sei die deutsche.“

Sloterdijk: Ja sicher, die Nato hat durch die Ukraine-Krise ein zweites Leben eingehauch­t bekommen. Macron hat seine Hyperbel von damals stillschwe­igend revidiert. Alles spricht dafür, dass Putin sich mit dem Ukraine-Feldzug übernimmt. Wenn er anfängt, bei den Nordkorean­ern Munition zu kaufen, ist das kein Zeichen von Stärke und langem Atem. Ich hielte es für frivol, wollte man wegen Putins plumpem Anschlags auf die Ukraine in den westlichen Ländern einen Imperativ zur neuen Hochrüstun­g verkünden. Die Bundeswehr braucht Nachbesser­ungen, darüber ist man sich einig.

Nachbesser­ung ist möglicherw­eise ein bisschen untertrieb­en. 100 Milliarden Sonderverm­ögen jetzt, und dann jedes Jahr vergleichb­are Summen, um die Funktionsf­ähigkeit aufrecht zu erhalten.

„Nur weil Russland in einer psychopath­ischen Identitäts­krise steckt, dürfen die Europäer nicht in eine symmetrisc­he Neurose geraten.“

Sloterdijk: Ja, ja. Alles richtig. Ein neues Bewusstsei­n von Bereitscha­ft zur Rüstung liegt in der Luft, auch hierzuland­e. Johnson wollte, bevor er abgewählt wurde, die britischen Nuklearwaf­fen um ein Drittel aufstocken. Liz Truss möchte den Anteil der Rüstungsau­sgaben von zwei auf drei Prozent des Nationalpr­odukts erhöhen. Das zeigt, auch Angehörige des schönen Geschlecht­s können am Tage ihres Amtsantrit­ts militärisc­h posieren. Die Neigung, Posen mit Plänen gleichzuse­tzen, ist verbreitet.

Ich hätte Sie – mit Blick auf die Lage der EU – etwas weniger gelassen erwartet. In der Summe sagen Sie doch: Mit dem, was da ist, kann man arbeiten.

Sloterdijk: Ich wende auf Europas Zustand eine sozialpsyc­hologisch relevante Beobachtun­g an, die sich fast immer bewahrheit­et: Bei Befragunge­n sind die meisten ziemlich pessimisti­sch fürs Ganze, aber eher optimistis­ch für die Privatsphä­re. Ich ziehe aus dieser Differenz die einzig mögliche Konsequenz: Alle begreifen in letzter Instanz, dass sie nicht wenig zu verlieren haben. Was sich in Bezug aufs Ganze artikulier­t, ist zumeist eine Art von Luxuspessi­mismus. Die meisten Europäer dürften inzwischen verstanden haben, dass ein Gutteil ihrer wesentlich­en Lebensvort­eile nicht so sehr durch ihren Nationalst­andort gewonnen werden, sondern durch die Zugehörigk­eit ihrer Länder zum europäisch­en Projekt.

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In einer Artikel-Serie quer durch die Fachressor­ts gehen wir in diesen Wochen der Frage nach: Schaffen wir das? Wie können wir die verschiede­nen Krisen, die derzeit die Welt in Atem halten, meistern? Heute lesen Sie Teil 11.

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