Schiffbruch mit der „Passagierin“
Die Oper von Mieczyslaw Weinberg erlebte 2010 in Bregenz ihre triumphale szenische Uraufführung. Jetzt ist sie erstmals in München zu sehen. Regisseur Thomas Kratzer inszeniert am zentralen Thema vorbei.
„Die Passagierin“klingt nach unverfänglichem Stoff, doch der Titel täuscht. Mieczyslaw Weinbergs Oper handelt von Auschwitz, mehr noch, sie spielt zu großen Teilen an diesem Schreckensort. Mit der Geschichte der „Passagierin“hat der Komponist eine autobiografisch grundierte Erzählung der polnischen Autorin Zofia Posmysz vertont, die als junge Frau selbst Gefangene in Auschwitz war, das Konzentrationslager jedoch überlebte. In der Erzählung glaubt eine Deutsche, Lisa, die sich in den späten 50er-Jahren zusammen mit ihrem Mann auf einer Schiffspassage nach Südamerika befindet, in einer Mitreisenden eine gewisse Marta zu erkennen, jene Frau, die ihr, der ehemaligen SS-Aufseherin, Jahre zuvor als Gefangene in Auschwitz gegenüberstand. Eine Begegnung mit einer Totgeglaubten, was Lisa mit ihrer verdrängten Vergangenheit konfrontiert.
Weinberg (1919-1996), jüdischpolnischer Herkunft, der nach dem Überfall der Deutschen auf Polen in die Sowjetunion floh, schrieb „Die Passagierin“Ende der 60erJahre. Zu Lebzeiten wurde seine Oper jedoch nie aufgeführt. Erst 2006 fand in Moskau die konzertante Uraufführung statt. Szenisch jedoch wurde „Die Passagierin“erst im Jahr 2010 auf die Bühne gebracht, bei den Bregenzer Festspielen im Festspielhaus. Die Aufführung wurde zum Triumph und lenkte im Westen den Blick überhaupt erst auf Weinberg und sein umfangreiches Schaffen. In die Bregenzer Produktion des britischen Regisseurs David Pountney war auch Zofia Posmysz eingebunden, auch bei der Premiere war sie zugegen. Die Zeitzeugin starb erst 2022 wenige Tage vor ihrem 99. Geburtstag.
Von zahlreichen internationalen Bühnen wird „Die Passagierin“seither gespielt, jetzt ist sie erstmals an der Bayerischen Staatsoper in Szene gesetzt. Tobias Kratzer wurde als Regisseur gewonnen, bekannt vor allem durch seinen hochgelobten „Tannhäuser“für Bayreuth. Kratzer aber hat, wie er offen bekundet, seine Probleme mit Weinbergs Oper, genauer: mit der Zumutung, Auschwitz auf dem Theater zu zeigen. „Gestreifte Lagerkittel“und „geklebte Glatzen“,
wie Pountney es zeigte, kommen für Kratzer nicht infrage. Der Regie entsteht jedoch ein Dilemma, denn Weinberg hat sehr genau festgehalten, was zu seiner Musik zu sehen sein soll. Rückblenden, vom Zeitpunkt der Schiffspassage retour in die Jahre des Weltkriegs, zeigen Lisa als KZ-Aufseherin, die sich die gefangene Marta zu perfiden Zwecken gefügig zu machen versucht, an der Verachtung der jungen Polin jedoch scheitert. Selbst das verlockende Angebot, ein Rendezvous zwischen Marta und ihrem Verlobten Tadeusz, ebenfalls KZ-Inhaftierter, zu arrangieren, stößt auf Ablehnung. Als der Musiker Tadeusz vor dem Lagerkommandanten einen Walzer
auf der Geige spielen soll, intoniert der stattdessen die Chaconne von Bach, was sein Todesurteil besiegelt.
Tobias Kratzer, wieder im Verbund mit seinem eingespielten
Team (u.a. Robert Sellmaier für Bühnenbild/Kostüm), verweigert jedoch die Visualisierung des Lagers. Der Regisseur verweist auf den diesbezüglichen ästhetischen Diskurs, ob das Geschehen in
Auschwitz von Nachgeborenen überhaupt angemessen ins Bild gefasst werden könne. Ein notwendiger Diskurs, da hat Kratzer schon recht. Und doch kommt eine Inszenierung der „Passagierin“nicht an der Tatsache vorbei, dass hier nun mal sehr konkret von Auschwitz die Rede, die Szene und gewiss auch Weinbergs Musik ist.
Die Münchner Neuinszenierung zeigt im ersten Teil der Oper die Seitenansicht eines Ozeandampfers mit Kabinen und zugehörigen Balkonen. Hier drängt die Vergangenheit an Lisa heran, hier singen junge männliche Schiffsgäste im Freitzeitlook die zynischen Dialoge der SS-Männer im Lager. Sie waren unter uns, die Schergen, in all den Jahren seit dem Krieg, soll das wohl besagen. Doch eine Ahnung von Auschwitz, der „Hölle“, wie es bei Weinberg heißt, will sich beim Blick auf diese Freizeitgesellschaft beim besten Willen nicht einstellen. Auch Kratzers Einfall, die Figur der Lisa zusätzlich ins Heute zu spiegeln, als alte Frau mit Urne, die die Asche ihres Mannes ins Meer streuen will und die erneut die Erinnerung überkommt, trägt nichts zur Vertiefung bei.
Vollends problematisch wird es, wenn das Untereinander der gefangenen Frauen im Lager, unter ihnen Marta, ins Innere der Schiffskabinen verlegt wird. Statt kahl rasierter Köpfe („geklebte Glatzen“) sind Frauen mit wohlgebürstetem Haar, in Stöckelschuhen und Kleinem Schwarzen zu sehen, singend vom Ungeheuerlichen. Hier geht die Bildverweigerung komplett nach hinten los, macht Kratzer das Leiden unsichtbar. Das gilt auch für Marta und Tadeusz, wenn sie zwischen langen Käpt’nsDinner-Tischen ein verliebtes Hasch-mich-Spiel aufführen: Halten sie’s so, die Todgeweihten?
Die Musik entschädigt für den szenischen Ausfall. Vladimir Jurowski am Pult des Bayerischen Staatsorchesters verleiht Weinbergs Partitur eine unerbittliche Wucht, mit Rhythmik voller Unruhe, mit Klangfarben zwischen mal grellen, mal fahlen Extremen, mit aufreizend sarkastischen Tanzmusik-Verballhornungen. Doch warum bloß hat der Generalmusikdirektor die Partitur Weinbergs eigener Aussage zufolge um ein Fünftel gekürzt, Musik, die kein Geringerer als Schostakowitsch in den höchsten Tönen rühmte? Weil bei Weinberg eine russische Partisanin ein russisches Volkslied singen darf, wie Jurowski andeutete? Man fasst sich an den Kopf ob solchen Furors.
Sängerisch lässt die Aufführung keine Wünsche offen, vor allem Sophie Koch als Lisa und Elena Tsallagova in der Partie der Marta ragen dabei heraus mit expressiver und zugleich präziser Gestaltung ihrer hoch liegenden Partien. Und doch hätten die Protagonistinnen gewiss noch mehr zu bieten gehabt, wenn die Inszenierung sie nicht wiederholt hinter die Szene verbannt hätte. Chronistenpflicht gebietet zu vermerken: viel Jubel am Ende der Aufführung, wenige Buhs für Tobias Kratzer und sein Team.
Männer im Freizeitlook singen die Dialoge der SS-Wachen