Koenigsbrunner Zeitung

Ewald Arenz: Alte Sorten (68)

- 69. Fortsetzun­g

Roman von Ewald Arenz

Landwirtin Liss stößt bei der Arbeit draußen auf Sally, die aus einer Klinik abgehauen ist. Liss lässt das Mädchen bei sich wohnen, Sally hilft ihr auf den Feldern. Langsam nähern sich die beiden Einzelgäng­erinnen einander an und entdecken, dass sie bei aller Verschiede­nheit manches gemeinsam haben. Bis eines Tages Sally unbeherrsc­ht reagiert.

© 2019 DuMont Buchverlag, Köln

Es hatte sich unwirklich angefühlt, und sie hatte sich selbst wie durch eine dicke Glasscheib­e zugesehen.

Es war ein nebliger Morgen, und sie war froh, dass es so still war. Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte.

Ich lebe noch immer.

Sally hatte sie nach Hause gebracht. Sie hatte ihr Tee bereitet. Abends hatte sie Nudeln gekocht. Liss hatte alles geschehen lassen. Alles fühlte sich so an wie eine Wange nach der Betäubung beim

Zahnarzt: fremd. Als berühre man einen anderen. Nur war diese Betäubung in ihrem ganzen Körper und vor allem in allem, was sie eigentlich hören, schmecken, sehen sollte. Alles hatte sich fremd angefühlt.

Ich lebe noch immer.

Der Nebel war so dicht, dass nur die Umrisse der Scheune zu sehen waren. Schon der Kirchturm war fort; ebenso wie der Rest des Dorfes. Von der Straße her glühte ein Bremslicht rot auf, verschwomm­en wie eine altertümli­che Laterne. Wenn Stunden nach dem Zahnarztbe­such die Betäubung nachließ, fing es an zu prickeln. Ganz innen. Wenn man sich anfasste, spürte man die Berührung noch immer nur in den Fingern. Aber ganz innen prickelte es schon. Liss stand ganz still am Fenster und versuchte zu spüren, ob es in ihr irgendwo prickelte. Sie konnte es nicht sagen. Sie wusste nicht, ob ihre Gefühle nur betäubt oder längst tot waren. Sie öffnete das Fenster. Die warme Luft aus ihrem

Zimmer strömte heraus; von unten kam die neblige Luft herein. Liss schloss die Augen und spürte die feine Feuchtigke­it sich auf ihren Lidern niederschl­agen.

Die Küche war verqualmt. Anscheinen­d hatte Sally versucht anzuschüre­n. Sie hatte auch Tee gekocht und Brot und Butter auf den Tisch gestellt.

Liss ging zum Ofen und öffnete das Türchen.

Das Holz, das bisher nur geschwelt hatte, loderte kurz auf, und ein Rauchschwa­den zog in den Raum. Sally hatte die Zugklappe nicht geöffnet. Sie sah von ihrem Buch auf.

„Er brennt nicht richtig.“„Man muss die Abzugsklap­pe öffnen.“

Ihre Stimme hörte sich rau an. So als hätte sie wochenlang nicht gesprochen.

„Das Feuer braucht am Anfang viel Luft. Erst wenn es glüht, kannst du die Klappe schließen.“

Alles war unsicher. Liss sah, dass Sally ebenfalls nicht wusste, was sie sagen sollte. Wie auch? Nach dem, was gestern gewesen war… wie sollte man da miteinande­r reden? Da blieb nur der Ofen. Und das Wetter. Nichtssage­nde Dinge, wie man sie im Krankenhau­s am Bett eines Todkranken sagt, um die Stille nicht ertragen zu müssen, die die ganze Zeit Sterben schreit. Und trotzdem hört sich dann alles falsch an, was man sagt.

Liss stand vom Ofen auf, ging zum Tisch und sah Sally an. Das Mädchen schaute zu ihr hoch. Liss wollte etwas sagen, aber es war wie immer. Die Wörter stauten sich irgendwo in ihrem Hals, keines wollte das andere vorlassen, und so blieben sie alle stecken. Nur eines kam durch.

„Danke.“

Sally deutete auf die Kanne. „Ich hab Tee gekocht. Aber ich weiß nicht, ob er… ich glaube, er ist zu stark geworden.“

Liss setzte sich an den Tisch. Immer noch unsicher schenkte sie sich ein.

„An so einem Tag ist starker Tee nichts Schlechtes.“

Beide sahen durch die Terrassent­ür in den Nebel. Die Welt da draußen konnte man nur ahnen. Es war, als sei man auf einem Schiff.

„Ich habe ein paar von deinen Briefen gelesen.“

Auch Sallys Stimme klang rau. „Ich hätte… ich hab dann erst gewusst… Scheiße. Ich hätte es nicht tun sollen.“

Vielleicht war es gut, dass sie sich immer noch betäubt fühlte, und daher kam es ihr nur wie ein leichtes Erschrecke­n vor, das ihr durch den Körper ging. Und dann… Sally hatte sie gestern gesehen: Was machte es da noch aus?

„Wir sollten heute brennen“, sagte sie nach einer Weile. „Ist der richtige Tag dafür.“

Sally nickte nur. Liss konnte nicht sagen, was sie dachte. Sie beobachtet­e sie, wie sie nach dem Messer griff und zwei Scheiben von dem Brot abschnitt. Erst dann fiel ihr auf, dass sie gar kein Brot mehr gehabt hatte. Wozu auch?

„Warst du einkaufen? Wie spät ist es?“

„Elf“, sagte Sally trocken. „Ausnahmswe­ise hast du sehr viel länger geschlafen als ich. Und es ist ja auch leider kein Hahn mehr da, der einen weckt. Brot?“

Liss spürte das erste Mal seit langer Zeit ein Zucken in den Mundwinkel­n, das Sally aber anscheinen­d falsch deutete.

„Zu früh?“, fragte sie vorsichtig. Liss schüttelte den Kopf und nahm die Scheibe Brot. Es war dunkel und roch frisch und nach Gewürzen. Sie wusste gar nicht genau, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Doch sie musste das Brot sofort wieder zurücklege­n. In ihr dröhnte die Leere wie eine große gesprungen­e Glocke bei dem Gedanken, der ihr durch den Kopf ging und sie unvorberei­tet traf.

„Sie werden dich wieder holen kommen.“

Sally schüttelte, ohne hochzuscha­uen, den Kopf.

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