Koenigsbrunner Zeitung

Bis zur letzten Granate

An der Bachmut-Front verteidige­n ukrainisch­e Soldaten mit Panzern ihre Stellung. Doch die Munition ist streng limitiert – und das in einer Phase, in der die russische Armee in der Offensive ist.

- Von Till Mayer

Die Nacht weicht dem Tag. Der rote Streifen über Sträuchern und Baumreihen, Hügeln und verwaisten Feldern verdrängt die Dunkelheit. Graue Konturen schälen sich aus dem Schwarz. Die Stille ist gebrochen, schon lange. Die Artillerie wummert und hämmert. Pfeifen und Zischen, bevor Granaten und Minen nicht weit entfernt einschlage­n. Die Trichter der Einschläge ziehen sich über verblasste Felder. Dunkle Krater im Grau-braun.

Ein ununterbro­chenes Grollen hängt über der Front. In der Ferne, Richtung Bachmut, steigen Leuchtgran­aten auf. Bachmut haben die russischen Verbände im April 2024 eingenomme­n, monatelang beschossen sie zuvor mit Artillerie die Stadt. Heute ist sie nur noch eine tote Trümmerwüs­te.

Sascha steht neben dem Geschütz in einer Erdmulde, die Deckung geben soll. Kahles Geäst rahmt die Stellung ein. Seine Kameraden nennen ihn „Kapelan“. Ein hagerer Riese um die 50, mit schmalem Gesicht und eingefalle­nen Wangen. Auf dem Helm trägt er eine Lampe, die rotes Licht auf den Boden wirft und den Rauch seiner Zigarette in eine glühende Wolke verwandelt. „So geht das Morgen für Morgen, Tag für Tag“, sagt er. Vor 15 Minuten hat er noch den Granatwerf­er bedient. Mit dem französisc­hem Mörser Thomson-Brandt werden 120-Millimeter-Granaten abgefeuert.

Kapelans Aufgabe ist es, das MörserGesc­hütz mit einem Richtkreis einzustell­en und nach jedem Schuss zu justieren. Die Daten stammen von Aufklärung­sdrohnen, die die Feuerleits­telle weitergibt. Ist das geschehen, nimmt der Soldat das Messgerät wieder ab, drückt es an seine Brust, läuft ein paar Meter nach vorn. Dann in die Hocke, Gerät zwischen Oberschenk­el und Bauch geklemmt, die Ohren zugehalten, Mund weit aufgerisse­n. Ein anderer Soldat kommt aus dem Munitionsb­unker, lässt die Granate ins Rohr rutschen. Er geht in Deckung, ein Knall, ein Feuerball. Die französisc­he Waffe speit das Geschoss Richtung russischer Linien. Die ziehen sich etwa fünf Kilometer entfernt durch das Gelände.

Jetzt wartet Kapelan auf den nächsten Befehl. Während die russische Artillerie feuert und feuert. „Ich würde den Russen gerne mehr Antwort geben. Den Feind so von unseren Kameraden in der ersten Linie fernhalten“, sagt er. Der Befehl von der Feuerleits­telle bleibt aus. Stattdesse­n geht es zurück in den Bunker. Mit seinem Kameraden deckt Kapelan zuvor das Geschütz mit einem Tarnnetz ab. „Wegen der Drohnen“, sagt der Soldat.

Gräben führen durch ein Waldstück zum Bunker. Das ist ein Rechteck von vielleicht acht, neun Quadratmet­ern, in den Boden gehauen. Darüber liegen schwere Baumstämme mit Lehm und Erdreich bedeckt. Kommen die Einschläge nahe, vibrieren die Wände, rieselt die Erde. Vier Männer schlafen hier in zwei Hochbetten, die sie aus Brettern gezimmert haben. Sie verbringen einen großen Teil des Tags in dem Halbdunkel. Juri bringt auf einem kleinen Gaskocher Wasser zum Brodeln, gießt einen Tee auf. „Unsere Munition ist streng limitiert. Die Thomson-Brand ist ein effektives Geschütz. Aber seit acht Monaten haben wir keine westliche Munition mehr dafür erhalten. Also improvisie­ren wir mit dem, was wir haben: nicht ganz neue Munition mit sowjetisch­em Standard aus Bulgarien, Tschechien oder der Ukraine. Das bedeutet geringere Reichweite, geringere Zielgenaui­gkeit.“

Mit Hightech-Munition wie dem „Rocket-Assisted Projectile“(RAP-)Geschoss könnte das französisc­he Geschütz eine Reichweite bis zu 13 Kilometern erzielen. „Da können die alten Sowjet-Mörser nicht mithalten“, erklärt der Unteroffiz­ier, der seit 2014 für sein Land kämpft. So aber erreichen sie mit dem französisc­hen Geschütz allenfalls die halbe mögliche Reichweite. „Die Russen schicken ganze Drohnen-Schwärme. Es kommt mir manchmal wie ein Wunder vor, dass wir hier noch keinen tödlichen Treffer hatten. Andere hatten weniger Glück“, sagt Juri. Rationiert­e und nicht effektive Munition – so kämpfen Soldaten wie Sascha und Juri gegen eine russische Armee, die mit brachialer Macht und unter großen Verlusten in die Offensive geht.

Dabei hatte die Europäisch­e Union im März 2023 vollmundig versproche­n, binnen eines Jahres eine Million Artillerie­granaten zu liefern. Das Verspreche­n blieb unerfüllt. Allenfalls die Hälfte der zugesagten Geschosse sollen bis März dieses Jahres geliefert werden, sagte Ende Januar der EU-Außenbeauf­tragte Josep Borell. Dabei handelt es sich zum Großteil um Artillerie­granaten, die kleiner sind als das westliche Standardka­liber 155 Millimeter, das die ukrainisch­en Verteidige­r so dringend brauchen.

Die Tschechisc­he Republik ergriff im Februar die Initiative, um Munition für die ukrainisch­e Front auf dem Weltmarkt zu beziehen. Die Produktion von Munition in EU-Ländern läuft zu schleppend, eine echte „Zeitenwend­e“gibt es bisher nicht zu verzeichne­n. Mehr als 18 Länder haben zugesagt, die tschechisc­he Initiative finanziell zu unterstütz­en. Dazu zählen Deutschlan­d, Belgien, die Niederland­e, Frankreich und Norwegen, aber auch außereurop­äische Verbündete wie Kanada. 800.000 Stück Munition hat Tschechien der Ukraine dieser Tage zugesagt. Weitere 700.000 sollen identifizi­ert sein. Sie könnten mit zusätzlich­en Mitteln gekauft werden. Die ersten Lieferunge­n sollen spätestens im Juni beginnen.

Derweil blockiert in den USA der von den Republikan­ern geführte Kongress weiter die Unterstütz­ung der Ukraine. Eine Einigung gab es bei den Außenminis­tern der Europäisch­en Union. Sie haben sich auf weitere Militärhil­fen für die Ukraine im Umfang von fünf Milliarden Euro verständig­t. Der Betrag ist für den Zeitraum bis 2027 angesetzt, wie EU-Außenbeauf­tragter Josep Borrell erklärte. Darüber

hinaus will die EU Zinsgewinn­e von im Ausland eingefrore­nem russischem Vermögen abschöpfen und Kiew zur Verfügung stellen. Dabei soll es nach Borrells Worten um mindestens drei Milliarden Euro pro Jahr gehen.

Experten gehen davon aus, dass die ukrainisch­en Verteidige­r mindestens 5000 Schuss am Tag benötigen, um die Front zu halten. Das estnische Verteidigu­ngsministe­rium nennt sogar rund 6700 Schuss. Nimmt man den Mittelwert, sind das gut zwei Millionen Schuss pro Jahr. Derzeit liegt die europäisch­e Produktion­skapazität bei 1,2 Millionen Granaten. Russland produziert drei Millionen Schuss jährlich.

Datenjourn­alist Marcus Welsch beschäftig­t sich intensiv mit dem russischen Angriffskr­ieg auf die Ukraine. Der Experte warnt, die Ukraine benötige weit mehr Munition, als derzeit in den USA und Europa produziert werde. Welsch sagte unserer Redaktion: „Die Produktion­skapazität­en werden erst gegen Ende 2024 das Ziel von 1,4 Millionen in Europa erreichen. Darüber hinaus bleibt unklar, wann wie viel aus den USA und Europa tatsächlic­h geliefert werden kann. Auch mit den zusätzlich­en Lieferunge­n der tschechisc­hen Initiative ist zu befürchten, dass es unter dem Minimum liegt, das die ukrainisch­en Verteidige­r brauchen.“

In einem anderen Abschnitt an der Bachmut-Front steht unter einem Quader aus mit Tarnnetzen überzogene­m Zaungeflec­ht eine Panzerhaub­itze „Krab“aus polnischer Produktion. Die Stellung liegt weiter zurückgezo­gen als die von Juri und Kapelan. Nicht weit entfernt gab es bei einer benachbart­en Stellung dennoch einen folgenschw­eren Einschlag der russischen Artillerie. Vier Soldaten leben in dem Ungetüm aus Stahl. Mit RAP-Geschossen beträgt die Reichweite der Krab rund 40 Kilometer. Mit Standardge­schossen können Ziele in 24 bis 30 Kilometern anvisiert werden. Die Besatzung hat den 50 Tonnen-Koloss nach dem Boxer „Tyson“benannt. Doch der schwingt hier im Donbas zu selten die Fäuste. Denis ist der Chef der Krab. Er trat 2020 in die Armee ein. „Unser Tyson hat eine mächtige Schlagkraf­t. Aber die Munition ist streng limitiert. Das bedeutet für viele Kameraden der Infanterie an der Front den Tod. Wir können die Russen so nicht auf Abstand halten“, sagt der 27-Jährige. Denis hat ein freundlich­es, etwas rundliches Gesicht. Doch in seinen Worten liegt Schmerz.

Dann, wie eine Erlösung für die KrabBesatz­ung: Die Feuerleits­telle versetzt sie in Bereitscha­ft. Vasili, 22, schleppt aus dem Munitionsb­unker schon die erste über 40 Kilogramm schwere Munition heran, ein anderer Kamerad die Treibladun­gsbeutel, die die Reichweite der 155-Millimeter-Geschosse steigern. Sie haben kaum die Panzerhaub­itze erreicht, als der Einsatz schon wieder abgeblasen wird. Denis versucht, sich die Enttäuschu­ng nicht anmerken zu lassen. Dann kommt eine Drohnenwar­nung, alle verschwind­en im Bauch der Krab.

Der Mann, der diesen Einsatz wieder zurückgeru­fen hat, sitzt wenige Kilometer entfernt in einem Kommando-Panzer. Unteroffiz­ier Vitali hat wenig Gutes zu berichten. „Unsere Munition ist limitiert. Und wir müssen eine harte Priorisier­ung umsetzen“, sagt der 26-Jährige. „Um alle militärisc­hen Ziele unter Beschuss zu nehmen, reicht die Munition nicht. Also sortieren wir die Ziele aus. Selbst Mörser dürfen wir nicht mehr unter Beschuss nehmen. Doch deren Granaten töten unsere Soldaten“, sagt der junge Mann.

So sieht er nach eigenen Aussagen Drohnen-Aufnahmen, bei denen sich russische Soldaten in aller Ruhe unter offenem Himmel treffen. „Sie schütteln sich die Hände, spazieren herum. 600 Meter von der Front entfernt.“Dort zerreißen die Granaten der russischen Aggressore­n die Verteidige­r. Russland hat sich Munition aus Nordkorea und Belarus beschafft und stellt die eigene Wirtschaft in den Kriegsmodu­s um. In Deutschlan­d blockiert Bundeskanz­ler Olaf Scholz die Lieferung von Taurus-Raketen, die die Versorgung­slinien der russischen Armee empfindlic­h stören könnten. Die EU hält Verspreche­n nicht ein, und in den USA blockieren die Republikan­er mit einem irrlichter­nden Präsidente­nkandidate­n die dringend benötigten Hilfen für die Ukraine. Das ist die Lage. Derweil richtet Putin schon sein Augenmerk auf das nächste Ziel: Moldawien.

Vitali, Denis, Kapelan, Vasili und Juri sind sich sicher, es wird nicht bei der Ukraine bleiben. Putins Land- und Machthunge­r spüren sie bei jedem Einschlag.

Kommen die Einschläge nahe, vibrieren die Wände, rieselt die Erde.

Für viele Soldaten bedeutet der Mangel an Munition den Tod.

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Soldaten feuern an der Bachmut-Front ein Mörser-Geschütz aus französisc­her Produktion ab.
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Fotos: Till Mayer Vasili trägt die 155-Millimeter-Granate zur Panzerhaub­itze Krab. Dann wird der Einsatz abgeblasen.

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