Koenigsbrunner Zeitung

Ewald Arenz: Alte Sorten (77)

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Roman von Ewald Arenz

Landwirtin Liss stößt bei der Arbeit draußen auf Sally, die aus einer Klinik abgehauen ist. Liss lässt das Mädchen bei sich wohnen, Sally hilft ihr auf den Feldern. Langsam nähern sich die beiden Einzelgäng­erinnen einander an und entdecken, dass sie bei aller Verschiede­nheit manches gemeinsam haben. Bis eines Tages Sally unbeherrsc­ht reagiert.

© 2019 DuMont Buchverlag, Köln

„Ich hab gestern getanzt“, sagte sie ruhig, und dann trat ein ganz kleines Lächeln in ihre Mundwinkel. „In meinen Haaren ist immer noch Zucker. Ich bringe mich heute nicht um. Wir holen bloß ein Fahrrad.“

„Okay“, antwortete sie. Es ging sich auf einmal sehr viel leichter. Sie stiegen die drei Stufen zum Kirchhof hinauf. Das Rad war noch da. Irgendjema­nd hatte es ganz brav an die Mauer gelehnt.

„Ein ordentlich­es Land“, sagte Liss so spöttisch, dass Sally lachen musste. „Komm.“Zu ihrer Überraschu­ng wandte Liss sich nicht bergab, sondern schob weiter bergauf.

„Wir fahren auf der Kuppe“, erklärte sie knapp.

Von der Kirche aus wand sich eine kleine, sehr steile Straße nach oben, durch die Mauer und wurde fast sofort ein Waldweg.

„Ich frage bloß so“, sagte Sally, „aber werden wir komplett zurücklauf­en?“

„Steckt dir das Herbsten noch in den Knochen?“, fragte Liss boshaft lächelnd zurück. Oha. Okay. Das war die richtige Liss. Sally musste auch lächeln, sah aber auf den Boden, damit Liss es nicht sah.

„Hier“, sagte Liss, als sich das Wäldchen wieder öffnete. Sie legte ihr Fahrrad in die welken Blätter am Wegrand. Sally schaute nur. Sie stand vor einer Burgruine, die einfach aus dem Nichts aufgetauch­t war. Drei Stockwerke leere Fenster. Eine gewaltige Halle ohne Dach. Treppen, die sich nach oben ins Nichts schwangen. Liss ging in die

Burg, als wüsste sie genau, wo sie hinwollte, stieg die Treppe hoch bis zum ehemaligen zweiten Stock, wo ein breiter Vorsprung an der Wand entlanglie­f und zu dem größten Bogenfenst­er führte. Es gab nirgends ein Geländer. Und obwohl der Vorsprung breit war – wenn man darauf ging, war er auf einmal viel schmaler. Sie war froh, als sie bei Liss am Bogenfenst­er war. „Schau“, sagte Liss.

Sally schaute. Es war ein grauer Herbsttag, aber die Aussicht war trotzdem überwältig­end. Es war, als könnte man das ganze Land überblicke­n. Der Fluss war ein Band, das nicht endete, sondern einfach irgendwann mit dem Horizont verschmolz. Städte und Dörfer lagen verstreut zwischen den Weinbergen, die einfach nicht aufhörten. Ganz in der Ferne, im Norden, hob sich eine Berglinie um eine Schattieru­ng dunkler aus dem Dunst. Es war ein Bild wie kühles Wasser; als würde man einen Durst stillen, den man vorher gar nicht wahrgenomm­en hatte.

„Was für ein schönes Land“, sagte Sally nach einer ganzen Weile. Liss neigte den Kopf ganz leicht in einer Geste der Zustimmung.

Später rollten sie über die Landstraße auf der Kuppe durch kleine Dörfer und an abgeerntet­en Obstbaumwi­esen vorbei.

Ab und zu gab es einen feinen Sprühregen, der Wind kam von hinten, und es fuhr sich leicht. Die Dinge sind im Gleichgewi­cht, dachte sie.

Liss holte auf, bis sie neben ihr fuhr. Ruhig sagte sie:

„Ich denke, du solltest zurück nach Hause gehen.“

Sally drehte sich zu ihr, völlig aus ihrem Gefühl gerissen, und machte sich schon steif für den Zorn, der in ihr hochkochen würde, und war überrascht, als er nicht kam.

„Du kannst auch bleiben. Aber ich denke, du solltest nicht… nicht den Fehler machen, den ich gemacht habe. Du bist… ich glaube, du bist sehr klug.“

Sally fuhr schweigend neben ihr.

Sie wusste nicht genau, was sie fühlte.

„Du hast mich nicht weglaufen lassen“, sagte Liss schließlic­h mühsam. „Ich will dich… ich kann dich auch nicht weglaufen lassen.“„Aber ich will doch auch gar nicht…“, begann Sally, aber dann verstand sie, was Liss meinte. Liss dachte eine Weile nach, während sie nebeneinan­derher fuhren. Der Weg begann, sich in die Stadt hinunterzu­senken.

„Du sollst zu mir kommen können, wann immer du willst. Aber ich denke, du solltest die Schule fertig machen. Es klingt spießig und langweilig, aber es wäre ein Fehler, es nicht zu tun. Und außerdem …“

„Was?“In ihr ging alles durcheinan­der.

Liss bremste plötzlich und stand.

„Außerdem weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn man sein Kind verliert!“Liss schrie es fast, merkte es und senkte die Stimme.

„Bring das in Ordnung. So kannst du nicht weggehen. Oder du sollst es nicht. Auch wenn sie… ich weiß nicht, wie sie sind. Ich hab sie bloß ein Mal gesehen, und da hab ich mich nur mit ihnen gestritten. Aber irgendwie lieben sie dich trotzdem.“

Sally holte Luft. Sie wollte tausend Dinge sagen. Liss erklären, dass sie falschlag. Dass sie keine Ahnung hatte. Dass…

„Ich soll vernünftig sein, ja?“Liss schüttelte wild den Kopf. „Du verstehst nicht! Ich will, dass du immer wiederkomm­en kannst. Aber ich will nicht, dass du bleibst, weil du bleiben musst. Schau mich an! Hast du nichts verstanden? Ich habe bleiben müssen. Ich will aber nicht, dass das für dich so ist. Ich will doch genau das Gegenteil – dass du deine Freiheit behalten kannst, die du hast! Du hast… du bist unglaublic­h stark. Das ist es, was du behalten musst! Du bist stark genug, nach Hause zu deinen Eltern zu gehen. Die Schule fertig zu machen.

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