Didier Eribon gibt einer alten Frau das Wort
Der Schriftsteller zeichnet in „Die Arbeiterin“ein bewegendes Porträt seiner Mutter. Mit ihr wirft er einen Blick auf die Menschen, die den letzten Teil ihres Lebens in menschenunwürdigen Verhältnissen verbringen.
Das Alter, das Sterben, die oft menschenunwürdigen Verhältnisse in Pflegeheimen: Am Beispiel seiner Mutter, die ihre letzten Wochen in einem Pflegeheim verbrachte, greift der französische Autor Didier Eribon in seinem neuen Buch „Eine Arbeiterin“schwerwiegende gesellschaftliche Missstände auf. Eine Arbeiterin verbringt ihre letzten Tage – ganz gegen ihren Willen – in einem Pflegeheim in einer Kleinstadt in der Champagne. Sie war Haushaltshilfe, Putzfrau, später Fabrikarbeiterin. Von Herkunft und Umgangssprache abgeschnitten von Bildung und Kultur. Sie war auch Ehefrau, mit ihrem Mann zusammen war sie eine militante Gewerkschafterin, wählte lange links. Sie hat vier Söhne, die sich nicht verstehen, kaum miteinander reden, in alle Welt zerstreut. Einer von ihnen ist schwul, ist ein Intellektueller geworden, lebt in Paris und besucht seine Mutter gelegentlich, immer mit einer gewissen Distanz, seit sie offen rassistische Ansichten äußert, rechts oder sogar rechtsextrem wählt, homophobe Haltungen zeigt.
Dieser Sohn nimmt das „Leben, Altern und Sterben“seiner Mutter zum Anlass, nicht nur ihre Existenz aus der Anonymität einer Arbeiterin unter Hunderttausenden zu würdigen, sondern die Frage zu stellen: „Wenn alte Menschen keine Stimme haben oder nicht mehr haben oder sogar, im Fall Pflegebedürftiger, nicht mehr haben können – sind dann nicht andere aufgerufen, ihnen eine Stimme zu geben?“Dieser Sohn ist Didier Eribon, Soziologe, Philosoph und seit „Rückkehr nach Reims“auch in Deutschland hochgeschätzter Autor. Sein von Sonja Finck bewundernswert ins Deutsche übersetztes Buch heißt „Eine Arbeiterin“, was besagt, dass diese Mutter exemplarisch für viele steht, zugleich ein einzelner, unverwechselbarer Mensch ist und die Mutter eines Sohnes, der vieles von dem, was sie sagt oder tut, nicht teilt, im Gegenteil! Eribon erzählt von den Stationen im Leben seiner Mutter, reflektiert die unterworfene Rolle von Frauen in der Gesellschaft und beschreibt das Bewusstsein von Klassenzugehörigkeit in den
Kämpfen dieser Menschen gegen Ausbeutung und Unterdrückung.
Er hat diese Klasse durch Studium und Beruf längst verlassen, im Gegensatz zu seiner Mutter und ihresgleichen aber nicht das „linke“Bewusstsein aufgegeben, das er um 1968 als Angehöriger einer damals trotzkistischen Studentengruppe entwickelt hat. Daran misst er das Abdriften seiner Mutter nach rechts, in einen latent wohl immer in der Arbeiterschaft vorhanden gewesenen Rassismus.
Im Verlauf seines voller Empathie für alte Menschen, auch für seine Mutter geschriebenen Buches kommt er auf Texte von Simone de Beauvoir und Michel Foucault zu sprechen. Er stellt fest, dass die Philosophin und der Soziologe
wie fast alle anderen, die sich mit dem Thema „die Alten“beschäftigen, von außen urteilen. Politisch und gesellschaftlich hält Eribon das zwar für verdienstvoll. Aber sie gehören nicht zu dieser Gruppe von Alten, es ist nicht die Stimme der Betroffenen selbst. „Eine Arbeiterin“von Didier Eribon ist so etwas wie ein Anfang, einer Alten das Wort zu erteilen, so schwer erträglich das auch zuweilen ist. Sind nicht auch diese Wortmeldungen Ausdruck ihrer unantastbaren Menschenwürde? (Sibylle Peine, dpa)
Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben. Aus dem Französischen von Sonja Finck; Suhrkamp, 271 Seiten, 25 Euro.