Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (8)
Sie blieb auf der Treppe und sah zu, wie sich die beiden Männer im Morgenlicht wuschen.
Anfang November weidete eine Schafherde vor dem Dorf.
Zunächst beobachtete Samuel die Herde aus sicherer Distanz. Dann steuerte er auf einige Schafe am Rand zu. Sie ließen sich streicheln, als bemerkten sie ihn nicht einmal. Der Hund beschnupperte Samuels ausgestreckte Hand, dann ließ er ihn in Ruhe. Bald musste Florentine aufpassen, dass sie
Samuel zwischen den Schafen nicht aus den Augen verlor. Nach einer Woche setzte sie sich neben den Schäfer und teilte wie selbstverständlich Brot und Käse. Glücklicherweise hatte dieser kein übermäßiges Interesse an einer Unterhaltung.
An einem Nachmittag kam Paul mit Oswald und Thea dazu.
Die Kinder liefen durch die Herde.
Florentine und Paul lehnten sich an einen Zaun, folgten der Bewegung der Schafe, ihrem selbstvergessenen Grasen.
Ab und zu sagte jemand etwas. Es wird früh dunkel.
Oder: Es ist kalt heute. Florentine mochte solche Sätze. Kleine Rückversicherungen, die das Schweigen rechtfertigten und hielten.
Hob sie den Blick, waren die Schafe immer anders über die Wiese verteilt. Behielt man sie im Auge, schienen sie sich überhaupt nicht zu bewegen. Ein Traktor fuhr übers Feld, Nebel dämpfte das Motorengeräusch. Von irgendwoher drang ein heller Glockenton zu ihnen. Florentine wurde von Unruhe erfasst, einer plötzlichen Furchtsamkeit. Kaum dass der Hund bellte, lief sie los.
Samuel, Oswald und Thea standen eng beisammen und starrten auf den Boden. Oswald hob etwas auf. Die Kinder lösten sich voneinander, als wäre etwas in ihre Mitte getreten.
„Peng!“, rief Oswald, die Mündung einer Pistole auf Thea gerichtet.
„Nein“, rief Paul. „Nicht!“Die Schafe stoben auseinander. Samuel sah kurz auf, dann warf er sich mit seinem ganzen Körper gegen den seines Freundes. Oswald taumelte und fiel hin. Florentine ging neben ihm auf die Knie.
Der Junge lag unbeweglich und starr auf dem Boden, eine Hand auf dem Bauch, die andere noch immer durchgestreckt, als würde er zielen. Florentine löste die Starre der Hand und hob ihn hoch; in ihren Armen wurde er ganz leicht. Paul wollte etwas sagen, doch sie schüttelte den Kopf.
Und während Thea zu weinen begann, als hätte ihr erst die Reaktion der Erwachsenen gezeigt, dass etwas geschehen war, streichelte Samuel das Fell eines Schafs, ohne den Blick von Oswald und seiner Mutter abzuwenden.
Paul hob die Pistole auf.
Sie war geladen. „Meinst du, das ist eine gute Idee?“, fragte Hannes, als sie am Abend die grünen Flecken aus Samuels Kleidern wusch.
„Die Schafe werden bald weg sein“, sagte Florentine, „dann suchen wir uns etwas anderes.“
„Vielleicht eine Beschäftigung, bei der das Kind sprechen lernt.“
Florentine schrubbte die Hose ein wenig heftiger.
Die Pistole erwähnte sie nicht. Sie blieb einige Tage zu Hause, streute Laub und Kompost in die Beete, Pferde- und Rindermist über die zurückgeschnittenen Rosen, baute mit Samuel aus Holz,
Reisig und Laub ein Winterquartier für Igel, schützte die Kübelpflanzen vor dem kommenden Frost.
Ein Brief von Bene traf ein. Er erzählte in seiner klaren, leicht bauchigen Schrift von den ersten Praxisstunden als Lehrer, beschwor die Erinnerungen an den Spätsommer. Lothar erwähnte er nur in einem Satz, aber dieser war so voller Liebe, dass deutlich wurde: Er wusste, dass sie es wussten. Aus dem geplanten Zwischenstopp waren drei Wochen geworden. Sie hatten in der Marosch gebadet, Feuerholz gespalten, bei der Ernte und der Zubereitung der Mahlzeiten geholfen. Sie hatten am Brunnen gelegen und sich zum Semesterbeginn wieder auf den Weg nach Berlin gemacht.
Ihm sei es, sagte Hannes, als wären die beiden noch immer hier, auf einer Decke im Garten, all ihre Wünsche auf dieses schmale Rechteck gebannt.
Als Florentine mit Samuel wieder aufs Feld ging, erwartete sie statt des Schäfers ein Junge. Er saß lesend auf einem Stein. Florentine mutmaßte, dass sich rumänische Literatur vor allem durch Schafhirten übers Land verbreitete. Schafe waren in Rumänien heilige Tiere. Pferde, Büffel und Rinder gab es auch viele, aber nur über Schafe existierten Lieder und Gedichte.
Der Junge hob grüßend die Hand an seine Mütze.
Das ist einer, der von etwas anderem träumt, dachte sie.
Florentine erlaubte sich selten Schlussfolgerungen, die über das hinausgingen, was sie selbst betraf. Andere hatten Meinungen, sie verfügte nur über die Summe vieler, oftmals widersprüchlicher Erfahrungen. Ob man, trotz aller Einsichten, klüger wurde, klug genug, um andere zu beurteilen, war zu bezweifeln. Etwas veränderte sich nicht, schien von Anfang an da zu sein, und Samuel, der sich zwischen den Schafen verlor, erinnerte sie jeden Tag daran.