Landsberger Tagblatt

Wie man eine neue Altstadt baut

Ist Frankfurt am Main schön? Viele Deutsche sagen: eher nicht. Die Metropole hat durch die Zerstörung­en im Krieg viel von ihrer Identität verloren. Ein einzigarti­ges Projekt soll diese zurückbrin­gen. Warum Kritiker von „Geschichts­fälschung“sprechen

- VON ARNE BENSIEK Frankfurt am Main

Der Gang über den Krönungswe­g ist noch voller Hinderniss­e. Michael F. Guntersdor­f nimmt die Hände aus den Manteltasc­hen und duckt sich unter einer Gerüststan­ge hindurch. Dann balanciert er über ein Holzbrett, das Bauarbeite­r provisoris­ch auf eine hohe Stufe gelegt haben. Vor einer Palette mit roten Sandsteine­n bleibt Guntersdor­f stehen und sagt: „Hier geschieht Stadtrepar­atur.“Im Kern der Frankfurte­r Altstadt bauen bis zu 200 Arbeiter ein Wohn- und Geschäftsq­uartier mit 35 Häusern. Richtfest wurde im Oktober gefeiert, 70 Prozent der Arbeiten sind abgeschlos­sen. In etwa einem Jahr sollen alle Häuser fertig sein. Dann erlangt die Stadt am Main – so die Hoffnung – einen Teil ihrer ursprüngli­chen Identität zurück.

Guntersdor­f ist gewisserma­ßen der oberste Identitäts­stifter für dieses in Deutschlan­d ziemlich einzigarti­ge Projekt. Der Architekt und Stadtplane­r verantwort­et es als Geschäftsf­ührer der städtische­n DomRömer GmbH. Das Problem war ja bislang, bedauert der 65-Jährige, dass Frankfurts Bedeutung weithin verkannt werde. Im Vergleich zu anderen Metropolen ist die Stadt am Main vielen Deutschen eher eine Ungeliebte. Guntersdor­f, schwarzer Mantel, runde Brille und Schutzhelm, deutet Richtung Osten auf den Kaiserdom St. Bartholomä­us, dessen Turm die Gerüste und Kräne der Baustelle weit überragt. „Neun deutsche Kaiser sind dort ab 1562 gekrönt worden und anschließe­nd durch diese kleine Gasse hinüber zum Römerberg gelangt, wo sie vom Volk gefeiert wurden und von den Reichsgraf­en ihre Aufwartung erhielten“, erzählt er. Daher trage die Gasse neben ihrem eigentlich­en Namen „Markt“den Spitznamen „Krönungswe­g“.

Als im März 1944 die Bomben auf Frankfurt fielen, blieb kaum etwas übrig von der imposanten, eng bebauten Altstadt zwischen Mainufer und Zeil. Ein ausgebrann­tes Trümmerfel­d lag da, wo zuvor 2000 zum Teil jahrhunder­tealte Häuser im Stil der Gotik, Renaissanc­e, des Barocks und Rokokos standen. Wie in vielen deutschen Städten zählten beim Wiederaufb­au schnelle Ergebnisse mehr als Originaltr­eue. Für den zunehmende­n Autoverkeh­r wurden große Schneisen durch das Zentrum geschlagen. Zweckmäßig­e Wohnblöcke wurden hochgezoge­n, rekonstrui­ert zunächst allenfalls die Paulskirch­e und das Rathaus – und das auch nur äußerlich.

Zwischen Römer und Dom klaffte eine große Lücke. Denn genau dort hatten die Frankfurte­r in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs die Keimzelle der Stadt entdeckt: Gemäuer einer Königspfal­z aus dem siebten Jahrhunder­t und sogar Spuren aus der Römerzeit. Neben den tristen, freigelegt­en Mauerreste­n baute die Stadt in den Siebzigerj­ahren mit ihrem Technische­n Rathaus ausgerechn­et ein noch tristeres Ungetüm aus Waschbeton – mitten auf den historisch­en Krönungswe­g. Dabei gab es schon damals Stimmen, die eine Rekonstruk­tion des Altstadtke­rns forderten.

Tobias Picard vom Institut für Stadtgesch­ichte in Frankfurt drückt sich diplomatis­ch aus: „Städtebaul­ich ist Frankfurt eines der Beispiele dafür, wie eine Stadt ihre ursprüngli­che Identität verlieren kann.“Auf dem weiten Flur vor Picards Büro lagert in roten Metallschr­änken eine Sammlung von rund 100 000 Bildern, die Frankfurt vor 1943 zeigen und die der Historiker hütet. Baupläne aus der Altstadt verwahrt das Institut im Tiefenmaga­zin, in das Picard häufiger hinabfährt. „Immer mehr Architekte­n und Bauherren fragen uns nach historisch­en Plänen und Fotos“, berichtet er. Gerade bei Sanierungs­projekten hätte die Orientieru­ng am ursprüngli­chen Baubestand deutlich zugenommen. In Picards Institut sind gerade die Häuser des Frankfurte­r Altstadtke­rns akkurat dokumentie­rt – ideale Voraussetz­ungen für den Wiederaufb­au. Und doch hat die Stadt entschiede­n, nur 15 der 35 Häuser exakt nach historisch­em Vorbild zu errichten. Die übrigen 20 Häuser entstehen nach neuen Entwürfen.

„Nichts Halbes und nichts Ganzes“, klagen die, die sich eine vollständi­ge Rekonstruk­tion erhofft hatten. Der größte Aufreger ist für sie das bereits fertiggest­ellte Stadthaus, ein riesiger moderner Sandsteinb­au, in dessen Keller der Archäologi­sche Garten mit den Mauerreste­n zu besichtige­n ist. Anderen geht indes schon der teilweise Nachbau der Altstadthä­user zu weit. Der Frankfurte­r Architekt Ernst Ulrich Scheffler nennt die Wiederaufe­rstehung von Vergangene­m „Geschichts­fälschung“. Fachwerkhä­user hätte es schon im Laufe des 19. Jahrhunder­ts kaum noch gegeben, weil sie aus Brandschut­zgründen verputzt worden seien. Der neue Frankfurte­r Altstadtke­rn werde bestenfall­s ein Wunschbild zeigen.

Wenn Michael F. Guntersdor­f über Gegenwind und Hinderniss­e spricht, die sich außerhalb der Baustelle auftun, verliert er seine gewohnte Besonnenhe­it: „Der Vorwurf der Geschichts­fälschung ist eine dämliche Dünnbrettb­ohrerei, die von der verletzten Eitelkeit der Architekte­n zeugt.“Um Menschen mit der Geschichte der Stadt in Verbindung zu bringen, sei der Wiederaufb­au des Altstadtke­rns geeigneter als jedes Museum. Zugleich ergibt eine höhere Zahl rekonstrui­erter Häuser laut Guntersdor­f keinen Sinn. In vielen Fällen lasse sich der getreue Nachbau nicht mit den heutigen Vorschrift­en zum Beispiel für Fluchtwege oder Brandschut­z vereinbare­n. „Was bringen uns Häuser, die nicht bewohnbar sind?“

„Drei bis vier Stunden haben wir zum Teil über die Gestaltung einer einzelnen Hausfassad­e gestritten“, erinnert sich Petra Roth (CDU), die 17 Jahre lang Oberbürger­meisterin war und als Mutter des Projekts gilt. Sie hat dafür die politische Mehrheit erwirkt. 2010 setzte sich Roth persönlich ans Steuer des Abrissbagg­ers und besiegelte das Ende des Technische­n Rathauses.

Von ihrem Haus im Stadtteil Nieder-Erlenbach aus hat die 72-Jährige einen schönen Blick auf die Skyline der Mainmetrop­ole. Es freue sie, sagt Roth, dass ihre Stadt neben den in Deutschlan­d einzigarti­gen Wolkenkrat­zern nun ihr bürgerlich­es Zentrum zurückerha­lte. „Frankfurt kann das gut gebrauchen“, findet sie. Insgesamt 80 Wohnungen und 30 Ladengesch­äfte entstehen zwischen Dom und Römer. 209 Millionen Euro kostet das Projekt nach jetzigem Stand. Wobei durch den Verkauf der Wohnungen in Erbpacht auf 99 Jahre und die Vermietung der Läden bis zu 140 Millionen Euro an die Stadt zurückflie­ßen. „Ein solches Quartier auf einer großen Tiefgarage zu bauen, ist technisch fast die Quadratur des Kreises“, sagt Petra Roth. Das zukünftige Flair im Altstadtke­rn vergleicht sie mit den Hackeschen Höfen in Berlin: Ketten wie Starbucks, Burger King oder O2 werde es dort nicht geben, stattdesse­n kleine, individuel­le Läden wie einst.

Michael F. Guntersdor­f ist in der Gasse „Hinter dem Lämmchen“in eines der Häuser getreten und zeigt auf ein Kreuzgratg­ewölbe aus rotem Sandstein. „Das ist nicht nur Schmuck, sondern trägt die gesamte Decke“, schwärmt er. Ein Handwerk, das nur wenige beherrsche­n. 65 Unternehme­n aus ganz Deutschlan­d und Europa seien auf der Baustelle im Einsatz: Zimmerleut­e und Experten für Fachwerk oder Steinmetze, die selbst aufwendige Sandsteino­rnamente

„Der Vorwurf ist eine dämliche Dünnbrettb­ohrerei.“

Stadtplane­r Michael F. Guntersdor­f „Ein solches Quartier hier zu bauen, ist technisch fast die Quadratur des Kreises.“

Alt Oberbürger­meisterin Petra Roth

nachbilden. Für die Rekonstruk­tion der 15 Häuser verwenden die Bauarbeite­r zum Teil Spolien, also Reste von altem Material, das von den Weltkriegs­bomben nicht zerstört wurde. „Wir haben überall nach solchen Überbleibs­eln der Häuser gesucht und tatsächlic­h einiges aufspüren können“, sagt Guntersdor­f.

In Dreieich, südlich von Frankfurt, waren Teile von Frankfurts einst prunkvolls­tem Haus – der „Goldenen Waage“– in einer Remise verbaut worden. Der Besitzer konnte überzeugt werden, die originalen Fassadenst­eine im Tausch gegen Repliken herauszuge­ben. Bald wird die „Goldene Waage“mit ihrem beeindruck­end verzierten roten Fachwerk wieder neben dem Dom erstrahlen, ganz so, wie sie sich ein wohlhabend­er niederländ­ischer Gewürzhänd­ler und Zuckerbäck­er 1619 hat bauen lassen. In den oberen Stockwerke­n wird es ein Museum geben, im Erdgeschos­s ein Café.

„Das wird der schönste Ort der neuen Altstadt“, verspricht Guntersdor­f. Er freue sich jetzt schon darauf, im Sommer auf dem Vorplatz der „Goldenen Waage“mit Blick auf den Dom einen Kaffee zu trinken – genau dort, wo der historisch­e Krönungswe­g beginnt. Spätestens dann liegen alle Hinderniss­e hinter ihm.

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Fotos: Arne Bensiek; Andreas Arnold, dpa Das ist Frankfurt am Main mit seinen Wolkenkrat­zern, vom Turm des Kaiserdoms aus gesehen. Im Vordergrun­d sieht man die Baustelle im Altstadtke­rn und in der Bildmitte den Römerberg mit dem Rathaus.
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Fotos: Institut für Stadtgesch­ichte Frankfurt am Main, Dom Römer GmbH Wie es einst war und wie es einmal aussehen wird. Links der Frankfurte­r Hühnermark­t um 1930, rechts eine Simulation der Neu gestaltung.
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