Das überforderte Ich, das prekäre Wir
Die Welt wird komplexer, das Leben vielfältiger. Da ist es immer schwieriger, ein stimmiges Bild von sich zu finden. Für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Was heißt hier noch normal? Darum ist „Identität“heute ein Kampfbegriff
Es hat ein bisschen gedauert, bis wir gemerkt haben, dass wir tatsächlich in einem neuen Jahrhundert leben – und was das wirklich bedeutet. Noch gar nicht allzu lang her ist es doch, dass Eltern noch mit Freude (und vielleicht auch ein bisschen Neid) auf ihre Kinder blicken konnten, in der Gewissheit: Großartig, wie selbstverständlich sie in Frieden und Freiheit aufwachsen, wunderbar, wie offen ihnen die Welt steht, faszinierend welche Erfahrungsund Entwicklungsmöglichkeiten sich ihnen bieten. Und heute? Ist es schwer geworden, zuversichtlich zu sein. So viel Vertrauen in die Kinder zu haben, dass sie all den Herausforderungen auf dem Weg in ihre Zukunft gewachsen sein werden.
Dazu braucht es noch nicht mal wachsende Sorgen in einer womöglich gefährlicheren Welt, mit einer womöglich kriselnden Wirtschaft. Viel fundamentaler nämlich ist die Verunsicherung, in die sich das Versprechen einer grenzenlosen Entfaltungsfreiheit verkehrt hat. Alles Mögliche scheint heute immer nur einen Klick weiter. Wer sich etwa im „Sozialen Netzwerk“Facebook einklinkt, hat bei der Frage des Geschlechts die Wahl zwischen 60 verschiedenen Optionen; und an jedem Fahrrad, jeder Hose, jedem Getränk klebt immer gleich ein Image, die Identifikation mit einem Lifestyle, suchmaschinenoptimiert.
Also was will ich? Und wer bin ich? Vielleicht war es noch nie so schwer, Orientierung für das eigene Leben zu finden – und gleichzeitig so leicht, nicht ich selbst zu sein. Denn die Weiten des Internets, die Entwicklungen der virtuellen Realitäten eröffnen ein grenzenloses Spielfeld der Identitäten. Und auch die Wirklichkeit ist in so viele Lebenswelten ausdifferenziert, die alle ein eigenes Glück versprechen, dass der Druck zur Auswahl wirkt, wie wenn man vor einem Regal mit Hundert verschiedenen Müslisorten steht. Polyamorer Mechatroniker in Brooklyn, veganer Lehrer mit Familie in Buxtehude, fitnessfanatische Bäckereifachverkäuferin in Berlin, tief christlicher Youtuber mit Nomadenleben,… Hundert bunte Lebensbilder, Identifikationsangebote mit Wahrheitsversprechen in jeder Sparte – What would you like to be
today? Bloß, dass eine Entscheidung hier Weichen stellt, nicht wieder wegklickbar ist, Ernst verlangt. Für ein Scheitern inmitten all der Möglichkeiten nämlich ist im Zeitalter der freien Entfaltung, des Individuums und des boomenden Superhelden-Kinos auch nur noch der Einzelne verantwortlich. Und wer durchs Raster fällt, trifft wohl noch auf ein soziales Netz, aber nur noch begrenzt auf Solidarität.
In einer Gegenbewegung hat ein anderer Begriff besondere Konjunktur: Authentizität. Als Richtschnur an Popstars und Politiker angelegt, aber auch bis zum Facebookfreund und Klassenkameraden wirkend, gilt der als mit einer besonderen Qualität ausgezeichnet, der es schafft, so zu wirken, als wäre er selbstbewusst, so wie er eben ist. Auf all den Selfies. Genau aus diesem Zusammenhang stammt ja auch das Wort des vergangenen Jahres: postfaktisch. Identität ist eine Frage der Fantasie. Immer wieder neu. In einer Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten ist authentisch das neue normal. Und während die einstige Normalität eine Bestätigung durch das mehrheitlich verbreitete Modell in der Gesellschaft fand, bleibt nun nur noch das eigene Selbstbewusstsein und das dazu passende Milieu.
Dieser Wandel im jeweiligen Ich hat auch Folgen für das allgemeine Wir-Gefühl. Wer die neue Vielfalt gut findet, nennt sie Diversität und hofft, dass sich daraus in der Zukunft eine neue, offenere Gesellschaft bildet – mit dem grundlegenden Wert der Freiheit des Einzelnen. Wer in dieser „Freiheit“bloß eine alle anderen Werte nivellierende Willkür des Lebensgenusses sieht, wird dagegen ein tiefes Unbehagen spüren. Weil alle Traditionen des Zusammenlebens, weil bislang verlässliche Ordnungen von der Gesellschaft bis zur Familie auf dem Spiel stehen. Denn: Braucht es für ein grundlegendes Wir in einer Gesellschaft nicht auch eine Verständigung, eine Festlegung über solche Werte, die allein ja auch Wohlstand und Sicherheit garantieren können? Manche nennen das dann eine über die Leitlinien der Grundgesetze hinausgehende „Leitkultur“. Worin Freunde der Diversität wiederum eine reaktionäre Wendung gegen die Freiheit des Einzelnen sehen.
Und in diesem Spannungsfeld ist der Begriff der „Identität“sogar zum Kampfbegriff geworden. Mit den schlimmsten und weitreichendsten Folgen in der Islamischen Welt. In Abwehrreaktion gegen die globalen libertären Entwicklungen des beginnenden 21. Jahrhunderts ufert ein Machtkonflikt über das, was es etwa heißt, ein echter Muslim zu sein, gewalttätig in die halbe Welt aus. Im Terror-Camp mag nur noch das Prinzip gelten, dass es als einzig Sinnstiftendes nur einen gemeinsamen Feind braucht, der für die vermeintlichen Perversionen einer komplexen Welt bekämpft werden kann. Aber die Frage der Identität und der Strenge spaltet ja gerade Sunniten und Schiiten. Auch Autokraten wie Erdogan und Putin befeuern damit, nicht von ungefähr, auch noch religiös aufgeladen ihre Machtpropaganda. Und in Europa rüstet eine „Identitäre Bewegung“von rechts her auf, um die Ordnung der Kultur zu verteidigen. Das ansonsten überforderte Ich soll wieder eindeutige Orientierung finden in einem maßgeblichen, mehrheitlich vereinbarten, traditionellen Wir.
Für die Kinder dieses Jahrhunderts bedeutet das, dass sie nicht nur im Persönlichen vor einer Wahl stehen, die ihnen die Freiheit als Last erscheinen lassen kann: Wer will ich sein? Sie leben zudem in einer Zeit, in der sich gerade an der Frage der Identität wieder ideologische Grabenkämpfe entzünden: Wer wollen wir sein? Es ist der wankende Boden einer Welt im Umbruch, auf dem sie Stehen lernen müssen.
Wenn es aber einen Grund zur Zuversicht gibt, dann sind es die Kinder selbst. Denn das Wanken spüren ihre lange eine relative Ruhe gewöhnten Eltern viel deutlicher – für die Jüngeren ist es Normalität. Wie mit den 60 Geschlechtern auf Facebook werden sie auch damit pragmatisch umgehen – oder sich ausloggen. Sie werden Erfahrungen machen und Scheitern lernen müssen. Sie werden die Vielfalt kennenlernen und sich das Maß an Zugehörigkeit und Stabilität suchen, das sie brauchen. Und das Maß an Freiheit, das sie sich zutrauen. Wenn die Eltern ihr Schwindelgefühl nicht auf sie übertragen. Und ihnen ein Boden bleibt, auf dem sie vernünftig entscheiden können. Der Schlüsselbegriff dafür heißt Resilienz und meint: Widerstandsfähigkeit gegen die Hysterie in Umbruchszeiten.