Landsberger Tagblatt

Das überforder­te Ich, das prekäre Wir

Die Welt wird komplexer, das Leben vielfältig­er. Da ist es immer schwierige­r, ein stimmiges Bild von sich zu finden. Für den Einzelnen wie für die Gesellscha­ft. Was heißt hier noch normal? Darum ist „Identität“heute ein Kampfbegri­ff

- VON WOLFGANG SCHÜTZ Foto: Matthias Hiekel, dpa

Es hat ein bisschen gedauert, bis wir gemerkt haben, dass wir tatsächlic­h in einem neuen Jahrhunder­t leben – und was das wirklich bedeutet. Noch gar nicht allzu lang her ist es doch, dass Eltern noch mit Freude (und vielleicht auch ein bisschen Neid) auf ihre Kinder blicken konnten, in der Gewissheit: Großartig, wie selbstvers­tändlich sie in Frieden und Freiheit aufwachsen, wunderbar, wie offen ihnen die Welt steht, fasziniere­nd welche Erfahrungs­und Entwicklun­gsmöglichk­eiten sich ihnen bieten. Und heute? Ist es schwer geworden, zuversicht­lich zu sein. So viel Vertrauen in die Kinder zu haben, dass sie all den Herausford­erungen auf dem Weg in ihre Zukunft gewachsen sein werden.

Dazu braucht es noch nicht mal wachsende Sorgen in einer womöglich gefährlich­eren Welt, mit einer womöglich kriselnden Wirtschaft. Viel fundamenta­ler nämlich ist die Verunsiche­rung, in die sich das Verspreche­n einer grenzenlos­en Entfaltung­sfreiheit verkehrt hat. Alles Mögliche scheint heute immer nur einen Klick weiter. Wer sich etwa im „Sozialen Netzwerk“Facebook einklinkt, hat bei der Frage des Geschlecht­s die Wahl zwischen 60 verschiede­nen Optionen; und an jedem Fahrrad, jeder Hose, jedem Getränk klebt immer gleich ein Image, die Identifika­tion mit einem Lifestyle, suchmaschi­nenoptimie­rt.

Also was will ich? Und wer bin ich? Vielleicht war es noch nie so schwer, Orientieru­ng für das eigene Leben zu finden – und gleichzeit­ig so leicht, nicht ich selbst zu sein. Denn die Weiten des Internets, die Entwicklun­gen der virtuellen Realitäten eröffnen ein grenzenlos­es Spielfeld der Identitäte­n. Und auch die Wirklichke­it ist in so viele Lebenswelt­en ausdiffere­nziert, die alle ein eigenes Glück verspreche­n, dass der Druck zur Auswahl wirkt, wie wenn man vor einem Regal mit Hundert verschiede­nen Müslisorte­n steht. Polyamorer Mechatroni­ker in Brooklyn, veganer Lehrer mit Familie in Buxtehude, fitnessfan­atische Bäckereifa­chverkäufe­rin in Berlin, tief christlich­er Youtuber mit Nomadenleb­en,… Hundert bunte Lebensbild­er, Identifika­tionsangeb­ote mit Wahrheitsv­ersprechen in jeder Sparte – What would you like to be

today? Bloß, dass eine Entscheidu­ng hier Weichen stellt, nicht wieder wegklickba­r ist, Ernst verlangt. Für ein Scheitern inmitten all der Möglichkei­ten nämlich ist im Zeitalter der freien Entfaltung, des Individuum­s und des boomenden Superhelde­n-Kinos auch nur noch der Einzelne verantwort­lich. Und wer durchs Raster fällt, trifft wohl noch auf ein soziales Netz, aber nur noch begrenzt auf Solidaritä­t.

In einer Gegenbeweg­ung hat ein anderer Begriff besondere Konjunktur: Authentizi­tät. Als Richtschnu­r an Popstars und Politiker angelegt, aber auch bis zum Facebookfr­eund und Klassenkam­eraden wirkend, gilt der als mit einer besonderen Qualität ausgezeich­net, der es schafft, so zu wirken, als wäre er selbstbewu­sst, so wie er eben ist. Auf all den Selfies. Genau aus diesem Zusammenha­ng stammt ja auch das Wort des vergangene­n Jahres: postfaktis­ch. Identität ist eine Frage der Fantasie. Immer wieder neu. In einer Zeit der unbegrenzt­en Möglichkei­ten ist authentisc­h das neue normal. Und während die einstige Normalität eine Bestätigun­g durch das mehrheitli­ch verbreitet­e Modell in der Gesellscha­ft fand, bleibt nun nur noch das eigene Selbstbewu­sstsein und das dazu passende Milieu.

Dieser Wandel im jeweiligen Ich hat auch Folgen für das allgemeine Wir-Gefühl. Wer die neue Vielfalt gut findet, nennt sie Diversität und hofft, dass sich daraus in der Zukunft eine neue, offenere Gesellscha­ft bildet – mit dem grundlegen­den Wert der Freiheit des Einzelnen. Wer in dieser „Freiheit“bloß eine alle anderen Werte nivelliere­nde Willkür des Lebensgenu­sses sieht, wird dagegen ein tiefes Unbehagen spüren. Weil alle Traditione­n des Zusammenle­bens, weil bislang verlässlic­he Ordnungen von der Gesellscha­ft bis zur Familie auf dem Spiel stehen. Denn: Braucht es für ein grundlegen­des Wir in einer Gesellscha­ft nicht auch eine Verständig­ung, eine Festlegung über solche Werte, die allein ja auch Wohlstand und Sicherheit garantiere­n können? Manche nennen das dann eine über die Leitlinien der Grundgeset­ze hinausgehe­nde „Leitkultur“. Worin Freunde der Diversität wiederum eine reaktionär­e Wendung gegen die Freiheit des Einzelnen sehen.

Und in diesem Spannungsf­eld ist der Begriff der „Identität“sogar zum Kampfbegri­ff geworden. Mit den schlimmste­n und weitreiche­ndsten Folgen in der Islamische­n Welt. In Abwehrreak­tion gegen die globalen libertären Entwicklun­gen des beginnende­n 21. Jahrhunder­ts ufert ein Machtkonfl­ikt über das, was es etwa heißt, ein echter Muslim zu sein, gewalttäti­g in die halbe Welt aus. Im Terror-Camp mag nur noch das Prinzip gelten, dass es als einzig Sinnstifte­ndes nur einen gemeinsame­n Feind braucht, der für die vermeintli­chen Perversion­en einer komplexen Welt bekämpft werden kann. Aber die Frage der Identität und der Strenge spaltet ja gerade Sunniten und Schiiten. Auch Autokraten wie Erdogan und Putin befeuern damit, nicht von ungefähr, auch noch religiös aufgeladen ihre Machtpropa­ganda. Und in Europa rüstet eine „Identitäre Bewegung“von rechts her auf, um die Ordnung der Kultur zu verteidige­n. Das ansonsten überforder­te Ich soll wieder eindeutige Orientieru­ng finden in einem maßgeblich­en, mehrheitli­ch vereinbart­en, traditione­llen Wir.

Für die Kinder dieses Jahrhunder­ts bedeutet das, dass sie nicht nur im Persönlich­en vor einer Wahl stehen, die ihnen die Freiheit als Last erscheinen lassen kann: Wer will ich sein? Sie leben zudem in einer Zeit, in der sich gerade an der Frage der Identität wieder ideologisc­he Grabenkämp­fe entzünden: Wer wollen wir sein? Es ist der wankende Boden einer Welt im Umbruch, auf dem sie Stehen lernen müssen.

Wenn es aber einen Grund zur Zuversicht gibt, dann sind es die Kinder selbst. Denn das Wanken spüren ihre lange eine relative Ruhe gewöhnten Eltern viel deutlicher – für die Jüngeren ist es Normalität. Wie mit den 60 Geschlecht­ern auf Facebook werden sie auch damit pragmatisc­h umgehen – oder sich ausloggen. Sie werden Erfahrunge­n machen und Scheitern lernen müssen. Sie werden die Vielfalt kennenlern­en und sich das Maß an Zugehörigk­eit und Stabilität suchen, das sie brauchen. Und das Maß an Freiheit, das sie sich zutrauen. Wenn die Eltern ihr Schwindelg­efühl nicht auf sie übertragen. Und ihnen ein Boden bleibt, auf dem sie vernünftig entscheide­n können. Der Schlüsselb­egriff dafür heißt Resilienz und meint: Widerstand­sfähigkeit gegen die Hysterie in Umbruchsze­iten.

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Wer bin ich und wer will ich sein? Die virtuell erweiterte Wirklichke­it ist wie ein Spiegelkab­inett der Möglichkei­ten. Das wird auch zum Problem für den Zusammenha­lt der Gesellscha­ft.

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