Das Feindbild „Zigeuner“
Endlich Aufklärung: Wie eine kulturelle Konstruktion zum Todesurteil für viele Familien in Bayern wurde
Erst als alter Mann hatte Hugo Höllenreiner vor wenigen Jahren den Mut, von den Qualen zu erzählen, die er als Kind im Vernichtungslager Auschwitz nur knapp überlebt hat. Wie andere im Nationalsozialismus verfolgte Sinti und Roma behielt er die schrecklichen Erinnerungen lieber für sich – wissend, dass die Mehrheitsgesellschaft ihm und seinen Leuten, den seit Jahrhunderten mit Argwohn betrachteten „Zigeunern“, nur wenig Mitgefühl entgegenbringen würde.
So hat es lange gedauert, bis in Deutschland der Holocaust an den Sinti und Roma zum öffentlichen Thema wurde. Im NS-Dokumentationszentrum in München (bis zu dessen Einrichtung es ebenfalls sehr lange gedauert hat) erzählt jetzt eine sorgfältig recherchierte Ausstellung von der „Verfolgung der Sinti und Roma in München und Bayern 1933 bis 1945“. Mit Dokumenten, privaten Fotografien und erläuternden Texten (speziell im umfangreichen Katalog) beleuchtet sie die jahrhundertealte Feindschaft gegenüber der Minderheit, die Konstruktion des Zigeunermythos als Feindbild und die zahllosen konkreten Maßnahmen der Kontrolle, Ausgrenzung und Verfolgung.
Die wurden nach der Gründung des Deutschen Reichs systematisiert und mit Beginn des 20. Jahrhunderts zur vordringlichen Polizeiaufgabe, etwa mit dem „Zigeunerbuch“des bayerischen Kriminalisten Alfred Dillmann, einer Datenbank, die bald Schule im ganzen Reich machte. Überhaupt wirkte Bayern als Vorreiter in der „Zigeuner“-Verfolgung. Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 kamen zu Kontrolle und Verfolgung der Entzug der Bürgerrechte, die Inhaftierung in Lagern und die vielfach angewandte Zwangssterilisation hinzu. Zwei Deportationen in Konzentrations- und Vernichtungslager dienten der Auslöschung der Sinti und Roma – bis zu einer halben Million Menschen wurden bis 1945 ermordet.
Auch der Münchner Hugo Höllenreiner und seine Familie, die seit Generationen in München-Giesing daheim war, war davon betroffen. Sein Schicksal und das vieler anderer Münchner Sinti und Roma schildert die Ausstellung mit eindrucksvollen Fotografien und Lebensgeschichten. Die erzählen vom Mut, Widerstand zu leisten, vom Geschick, unterzutauchen oder wenigstens die Kinder zu retten, vom unausweichlichen Tod und dem Überleben mit knapper Not, und immer wieder von der skandalösen Weigerung der Politiker, Behörden und Mitbürger in der Nachkriegszeit, die Sinti und Roma als Opfer der Nationalsozialisten anzuerkennen.
Das NS-Dokumentationszentrum schließt mit dieser längst überfälligen Ausstellung eine Wissenslücke. Nur schade, dass sich die Schau auf Lebensgeschichten aus München und Umgebung beschränkt und die Sinti und Roma aus dem Rest von Bayern nicht in den Blick nimmt – etwa die Sinti-Familien Rötzer aus dem Allgäu, Reinhardt aus Nördlingen oder Winter aus Augsburg. Auch deren Geschichten wollen erzählt werden. Und wo könnte das besser geschehen, als in dem Dokumentationszentrum der Landeshauptstadt, das ja Lern- und Erinnerungsort zur Geschichte des Nationalsozialismus sein will?
Die Ausstellung dauert bis 29. Janu ar, geöffnet Dienstag bis Sonntag 10 bis 19 Uhr. Der Katalog kostet 28 Euro.