Ihm musste man noch Briefe schreiben
Nachruf Der britische Essayist und Romancier John Berger starb neunzigjährig in Paris. Die Galerie Josephski-Neukum zeigte in drei Ausstellungen sein zeichnerisches Werk. Eine Würdigung
Issing „Eine traurige Nachricht“, erreichte Freunde und Bekannte der Issinger Galerie Josephski-Neukum am Dienstag vergangener Woche: John Berger, der bedeutende Kunstkritiker, Autor und fein beobachtende Zeichner war tags zuvor, am 2. Januar, in seinem Haus im Pariser Vorort Antony verstorben. Im November hatte er dort seinen neunzigsten Geburtstag gefeiert. Eine geplante Retrospektive aus diesem besonderen Anlass konnte zum großen Bedauern der beiden Galeristen nicht mehr realisiert werden.
Das Kunstverständnis ganzer Generationen, so fasste es in einer der E-Mail angehängten Würdigung ein langjähriger Freund und Wegbegleiter Bergers, der Schauspieler Simon McBurney, zusammen, habe der Brite mit seinen Büchern und der BBC-Serie „Sehen“geprägt.
Hoch geschätzt, nicht nur wegen seines herausragenden Intellekts, sondern auch als stets wacher, unvoreingenommener politischer Denker genoss der Gewinner des „Booker-Prize“1972 hohes Ansehen vor allem auch in Künstlerkreisen – die schottische Schauspielerin und Oscar-Preisträgerin Tilda Swinton war eine enge Freundin Bergers, ebenso die wie er bei Hanser auf Deutsch verlegte New Yorker Kritikerin, Schriftstellerin und Regisseurin Susan Sontag und der US-amerikanische Sänger und Komponist Tom Waits, um nur einige wenige zu nennen.
Kaum sonst jemandem sind mehr Arbeiten zeitgenössischer Künstler gewidmet, auf keinen anderen Namen stößt man in Vorworten zu literarischen Werken aller Genres oder auch in Begleittexten zu Film- oder CD-Booklets so häufig wie diesen: John Berger.
Und mindestens ebenso hoch gehandelt war der weltweit übersetzte Autor unter Kennern als Aspirant auf den Literaturnobelpreis wie der, der ihn vor wenigen Monaten tatsächlich verliehen bekam, MusikIkone Bob Dylan.
Als Verfasser so legendärer Essay-Sammlungen wie „Das Kunstwerk –Über das Lesen von Bildern“ und „Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens“oder von Romanen wie „G.“oder „SauErde. Geschichten vom Lande“hatte sich Berger über Jahrzehnte hinweg zu den unterschiedlichsten Themen zu Wort gemeldet, war viel beachtete Stimme im gehobenen politischen Diskurs und moralische Instanz, ohne je moralisierend zu sein.
Ein Star und in jedermanns Munde war John Berger dennoch nicht. „Das mag daran gelegen haben“, vermuten Helga Neukum und Joschi Josephski, „dass er sich nicht mit Äußerlichkeiten aufhielt und auf eine gewisse Weise zu vielfältig und meist auf mehreren Ebenen unterwegs war.“
In der Arbeit mit „Johns Texten“, formulierte es sein deutscher Übersetzer Hans Jürgen Balmes einmal ganz ähnlich, sei man „immer dabei, auf dem ganz großen Klavier zu spielen“und benötige, egal ob Essay oder Roman, immer „alle Töne“.
Als Zeichner hob John Berger die einfachen Dinge in den Vordergrund und fand seine Motive oft in der Natur. Einzelne Blüten etwa, den Zweig eines Obstbaums, Getreide mit schwer herab hängenden Ähren setzte er anmutig zart in unterschiedlichen Techniken, mit Tusche oder als Aquarell frei ins Bild, manchmal auch Tiere oder die Berglandschaft der Hochsavoyen, wo er seit 1974 bis zum Tod seiner Frau Beverly mit seiner Familie jahrzehntelang gelebt hat.
„Für mich war er einfach als Zeichner unheimlich wichtig“, sagt Joschi Josephski, „zu dem ich immer einen sehr direkten, intuitiven Zugang fand“, und vermutet die gemeinsame Erfahrung des Lebens auf dem Land, im alten Issinger Pfarrhof beziehungsweise einem bäuerlichen Anwesen am Ortseingang des kleinen Dorfes Quincy, als einen möglichen Grund dafür.
Zustande gekommen sei der Kontakt Mitte der Neunzigerjahre auf Vermittlung eines ehemaligen Künstlers der Galerie. Drei Ausstellungen mit Berger habe es seither gegeben, die erste im November 1997. An die Vernissage erinnern sich die beiden Galeristen gut: „In dem Jahr hatte es schon früh geschneit, und es war eiskalt. Geplant, aber nicht angekündigt, hielt John eine Lesung in der Issinger Pfarrkirche.
Alle stapften die verschneiten Treppen zum Kirchberg hinauf, drängten sich dicht an dicht in die engen Bankreihen und hörten, umgeben von den Kreuzwegbildern Johann Baptist Baders, eingepackt in ihre dicken Mäntel und dennoch fröstelnd zu, wie er eine Stunde lang seine literarischen Porträts aus ,Mann und Frau, unter einem Pflaumenbaum stehend’ in den Kirchenraum zeichnete. „Keiner von denen, die damals dabei waren, wird dieses Erlebnis je vergessen“, sind sie sicher.
Komplett aus dem Rahmen fiel im Jahr 2002 die zweite BergerAusstellung, bei der auf den ausdrücklichen Wunsch des leidenschaftlichen Bikers im gesamten Zwischengeschoss nur Motorradzeichnungen gezeigt wurden. „Wenn du richtig in eine Kurve hineingehst, hält sie dich in ihren Armen, ebenso wie ein Hügel dich in den Himmel trägt und ein Gefälle dich empfängt… Nach wenigen Stunden Fahrt durchs Land hast du das Gefühl, dass du mehr hinter dir gelassen hast als Städte und Dörfer“, beschrieb er 1993 in einem Essay seine Empfindungen beim Motorradfahren.
John Berger erlebte und dachte
Er hat das Kunstverständnis ganzer Generationen geprägt.
Berger erlebte und dachte die Welt in Bildern und in ho hem Maße körperlich.
die Welt in Bildern und in hohem Maße körperlich. Im Katalog zur dritten, diesmal GemeinschaftsAusstellung mit seinem Sohn Yves im März 2009, behauptet er von sich sogar, keine „verbale Intelligenz“zu haben.
Warum nicht, „a bit of british understatement“? Tatsächlich aber war Berger ein Meister darin, die dingliche Welt mit seinen Sinnen abzutasten und auf Durchlässigkeiten hin zu überprüfen, dem Geheimnis eines Traums auf der Spur, in dem es ihm einmal gelungen war, „to get inside the things I was looking at“. Und nicht weniger meisterlich verstand er sich darauf, das Gesehene in Worte zu fassen.
Das übrigens tat er bis zuletzt handschriftlich. „Es gab zwar einen Computer, der wurde aber nur von seinem Sohn oder seiner Frau bedient“, beschreibt Joschi Josephski die Kommunikation, „ihm musste man noch Briefe schreiben – und bekam immer ganz besondere Reaktionen.“
Es sei eine „unausgesprochene, stille Liebe“gewesen, beschreiben Helga Neukum und Joschi Josephski ihr Verhältnis zu John Berger, und sie würden eines besonders vermissen: dieses „Yes, Yes, Yes“, das jeder kannte, der ihm einmal begegnet war, und mit dem er allem, was man ihm erzählt habe, interessiert und aufmerksam gefolgt sei.