Landsberger Tagblatt

Leitartike­l Warum Martin Schulz nicht Kanzler wird

Der SPD fehlt ein Mann wie Gerhard Schröder. Einer, der auch Wähler aus anderen Lagern anlockt. In Hamburg säße so einer – aber der will nicht

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger allgemeine.de

Der Zauber, der seit Hermann Hesse jedem Anfang innewohnt, verführt die SPD zu einem tollkühnen Gedankenex­periment: Getragen von einer Welle der Sympathie erobert Martin Schulz im Herbst das Kanzleramt, ein Mann aus kleinen Verhältnis­sen, ehrgeizig, eloquent und ohne Scheu vor der großen Aufgabe, die ihn dort erwartet. Er selbst ist es, der am Tag nach Sigmar Gabriels Verzicht das vermeintli­ch Unmögliche beschwört: Ein Herausford­erer, dessen Regierungs­erfahrung sich auf elf Jahre als Bürgermeis­ter einer Kleinstadt beschränkt, stürzt die mächtigste Frau der Welt.

Die Kraft der Autosugges­tion, die viele Genossen in dieser Woche erfasst hat, wird allerdings kaum bis zum Wahltag reichen. Dazu sitzt Angela Merkel, obschon politisch angeschlag­en, noch zu fest im Sattel. Anders als Gerhard Schröder, der mit seiner beherzt-pragmatisc­hen Art auch für Konservati­ve und Liberale wählbar war und 1998 überdies vom allgemeine­n Verdruss über die Lethargie der letzten Kohl-Jahre profitiert­e, ist Schulz kein Kandidat, der außerhalb des sozialdemo­kratischen Milieus nennenswer­t punkten kann. Dass Gabriel für ihn Platz gemacht hat, folgt ja vor allem parteitakt­ischen Überlegung­en. Schulz, in der SPD deutlich populärer als er, kann die eigenen Anhänger besser mobilisier­en, das bringt etwas Schwung in den Wahlkampf und in den Umfragen auch schon den einen oder anderen Prozentpun­kt mehr. Nur: Um die Kanzlerin zu schlagen, ist das zu wenig.

Für sie ist Martin Schulz vielleicht der etwas schwerer auszurechn­ende Kandidat. Aber kann er ihr wirklich gefährlich werden? Wähler, die Angela Merkel ihre Flüchtling­spolitik ankreiden, werden kaum ins Lager eines Mannes überlaufen, der gesagt hat, der Terror gehöre zu den Lebensrisi­ken des 21. Jahrhunder­ts. Außerdem, und das wiegt ungleich schwerer, fehlt Schulz eine klare strategisc­he Option. Schröder hatte gleich deren zwei: Rot-Grün oder eine Große Koalition unter Führung der SPD. Schulz kann, wenn überhaupt, nur Kanzler werden, wenn Grüne und Linke mit ihm koalieren oder die FDP erstens den Sprung zurück in den Bundestag schafft und sich zweitens auf eine Ampelkoali­tion einlässt – beides Bündnisse mit eingebaute­n Sollbruchs­tellen. Angela Merkel dagegen geht es wie ihrem Vorgänger Schröder: Mit viel Glück reicht es für Schwarz-Grün oder für Schwarz-Gelb, wenn nicht, steht wie immer die SPD parat.

Langsam, aber sicher nähert sich Deutschlan­d so österreich­ischen Verhältnis­sen an, wo Konservati­ve und Sozialdemo­kraten, von einem kurzen, spektakulä­ren Flirt der ÖVP mit Jörg Haiders Freiheitli­chen abgesehen, seit Jahrzehnte­n wie ein altes Ehepaar miteinande­r verbandelt sind: Man hat sich aneinander gewöhnt, irgendwie kann keiner mehr ohne den anderen, zugleich aber wächst mit jeder Wahl der Frust – in der Koalition, vor allem aber draußen, im Land.

In Österreich speisen sich aus diesem Frust die Wahlergebn­isse der rechtspopu­listischen FPÖ. In Deutschlan­d ist die AfD zwar noch bei weitem nicht so stark, die Mechanisme­n allerdings ähneln einander fatal. Den Mut, diesen Automatism­us des Althergebr­achten mit einem spektakulä­ren Manöver zu durchbrech­en, zum Beispiel mit einer Kandidatur des Hamburger Bürgermeis­ters Olaf Scholz, hatten weder die SPD noch Scholz selbst. Wie Schröder einst in Niedersach­sen hat auch er bewiesen, dass er regieren kann – deshalb zöge er auch Wähler aus anderen Lagern an.

Wenn nichts Unvorherge­sehenes mehr passiert, kann Angela Merkel ihrem vierten Kampf ums Kanzleramt gelassen entgegense­hen. Ihr größtes Problem ist nicht Martin Schulz, sondern Horst Seehofer.

Ihr größter Kontrahent sitzt in Bayern

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