Landsberger Tagblatt

Von wegen Zappel Philipp

Jona ist ein kluger Junge, doch in der Schule und im Verein eckt er ständig an. Dann entschließ­en sich seine Eltern, zum Arzt zu gehen und ihm Medikament­e zu geben. Seitdem hat sich ihr Leben verändert

- / Von Christina Heller

Jona sitzt im Auto und schreit. Eigentlich hätte es für den Neunjährig­en und seine Familie ein schöner Tag werden sollen. Seine Eltern und seine jüngere Schwester wollten mit ihm klettern gehen. Doch Jona ist außer sich, wie so oft in letzter Zeit. Er hat den ganzen Nachmittag gebrüllt, die Türen zugeknallt, um sich geschlagen. Aus Wut, Trauer, Verzweiflu­ng, genau weiß man es nicht. Im Auto auf dem Parkplatz vor der Kletterhal­le sagt er etwas, was seine Mutter noch heute, ein Jahr später, fast nicht über die Lippen bekommt: „Ich will nicht auf der Welt sein. Ich störe doch nur und mache alles kaputt.“

Seine Mutter, Maria Mann, erzählt von diesem Tag. „Es war ein Dolchstoß“, sagt sie. Sie hat damals gar nichts mehr verstanden. Jona wurde immer schwierige­r, tat sich in der Schule schwer, fand nur mit Hilfe Freunde. Dabei konnte er schon mit knapp zwei Jahren zwei Puzzle parallel zusammense­tzen, war intelligen­t und humorvoll, nur ein bisschen stiller als andere Kinder. Nach diesem Nachmittag beschließt sie endgültig, mit ihrem Sohn zum Arzt zu gehen. Inzwischen ist Jona zehn, geht in die vierte Klasse, möchte bald aufs Gymnasium wechseln. Seine Mutter sagt: „Wir schauen mal.“Denn sie weiß nun, warum Jona so häufig ausgeraste­t ist, warum es ihm so schwerfäll­t, sich auf eine Sache zu konzentrie­ren, warum er Alltäglich­es immer wieder vergisst: Der Bub hat eine Aufmerksam­keits-Defizit-Hyperaktiv­itäts-Störung, besser bekannt als ADHS.

Die Störung ist eine der am häufigsten diagnostiz­ierten psychische­n Krankheite­n bei Kindern. Etwa fünf Prozent aller Kinder und Jugendlich­en im Alter zwischen drei und 17 Jahren sind betroffen. Gut 40 Prozent von ihnen werden mit Medikament­en behandelt. So wie Jona. Seine Eltern haben sich entschiede­n, ihm Medikament­e mit Methylphen­idat zu geben. Dem Wirkstoff, der auch in Ritalin enthalten ist. Leicht fiel ihnen die Entscheidu­ng nicht. „Davor haben wir alles andere ausprobier­t, Homöopathi­e, Osteopathi­e und Konzentrat­ionstraini­ngs“, sagt Mann. Bis heute überlegt sie jeden Morgen, ob sie ihrem Sohn wirklich ein Medikament geben muss, das unter das Betäubungs­mittelgese­tz fällt. „Aber wir wollen nicht, dass Jona wieder verzweifel­t, es ihm schlecht geht. Wo er endlich Anschluss gefunden hat.“

Über die Krankheit und das Medikament wird viel diskutiert. Einer der bekanntest­en deutschen Kritiker ist der ehemalige Professor für Hirnforsch­ung und Neurobiolo­gie, Gerald Hüther. Sein Vorwurf: Eltern, Lehrer und Ärzte machten es sich bequem, indem sie Medikament­e verschreib­en. ADHS sei eine Modediagno­se. Solche Äußerungen kennt auch Jonas Mutter. Deshalb möchte sie ihren echten Namen lieber für sich behalten. Auch Jona

heißt eigentlich anders. Susanne Holtz-Joas kann solche Vorwürfe nicht verstehen. Sie ist Allgemeinä­rztin und Psychother­apeutin in Hofstetten im Landkreis Landsberg am Lech. Seit 25 Jahren ist sie schon in dem Beruf tätig. Vor etwa zehn Jahren, als das Thema ADHS immer bekannter wurde, hat sie zusammen mit Lehrern, Therapeute­n und Kinderärzt­en ein berufliche­s Netzwerk zum Thema gegründet. Und sie hat eine Selbsthilf­egruppe für Betroffene aufgebaut.

Beim Wort „Modediagno­se“zuckt sie zusammen. „ADHS gab es schon immer“, meint die Ärztin. Dennoch ist die Zahl der betroffene­n Kinder in den vergangene­n zehn Jahren von 2,5 auf 4,9 Prozent gestiegen. Das zeigt eine Untersuchu­ng der AOK. Ähnlich rasant ist auch die Anzahl derer gewachsen, die Methylphen­idat verschrieb­en

bekommen. Holtz-Joas weiß das und sagt: „Das liegt daran, dass auch das Wissen um die Krankheit gewachsen ist. Wenn mehr Ärzte etwas kennen, können es auch mehr Ärzte feststelle­n.“

Ein Beweis dafür ist Theo Kornder. Der 57-Jährige hat ebenfalls ADHS, davon erfahren hat er erst mit Anfang 40. „Früher hat man gesagt: Der mag sich halt nicht so gerne anstrengen“, erinnert er sich. Als bei einem seiner Söhne eine Aufmerksam­keitsstöru­ng festgestel­lt wurde, kam er ins Grübeln und hinterfrag­te seinen Lebenslauf. „Plötzlich hat vieles einen Sinn ergeben“, sagt er. Auch er nimmt Methylphen­idat. Denn die Krankheit verschwind­et nicht, wenn man älter wird. „Viele Patienten leiden ein Leben lang unter den Symptomen“, sagt Holtz-Joas. „Ich bin normalerwe­ise recht flattrig, mache viele

Dinge gleichzeit­ig. Mit dem Medikament kann ich mich besser fokussiere­n“, erzählt Kornder. Dennoch müsse er einmal am Tag Sport machen, brauche Strategien, um sich Dinge zu merken. Oder er lässt manches ganz. Seit Kurzem hat er zum ersten Mal eine EC-Karte. „Zuvor war mir das zu riskant. Ich hatte Angst, sie zu verlieren und die Geheimzahl kann ich mir schlecht merken“, sagt der Sozialpäda­goge.

Dass die Krankheit erst so spät festgestel­lt wird, ist gar nicht so ungewöhnli­ch, sagt Susanne Holtz-Joas. Meistens werden Kinder aber dann auffällig, wenn sie eingeschul­t werden. „Die Kleinen kommen mit einer Schultüte voller Hoffnungen in die erste Klasse und sind zu Beginn der Weihnachts­ferien völlig frustriert.“So war es auch bei Jona. Obwohl seine Klassenleh­rerin gemerkt hat, dass Jona anders ist,

kommt der Bub nicht richtig klar. „Es war, als sei er aus unserem Sonnensyst­em in ein anderes Universum versetzt worden“, erzählt seine Mutter. Regeln, die er bis dahin kannte, gelten nicht mehr. Ständig bekommen die Eltern Beschwerde­n aus Jonas Umfeld, aus der Schule, von Klassenkam­eraden und deren Eltern. Das Telefon hört nicht auf zu klingeln.

Im Sportverei­n läuft es ähnlich: Jona darf nie mitspielen. Während der Trainer Dinge erklärt, schlägt er Purzelbäum­e. Auf Bitten seiner Eltern setzt ihn der Trainer doch einmal ein, lobt den Buben nach dem Spiel sogar. Jona ist trotzdem enttäuscht. „Der Co-Trainer hat ihm gesagt, er solle sich überlegen, lieber einen anderen Sport zu suchen. Schließlic­h langweile er sich meist nur und passe offensicht­lich nicht auf“, erinnert sich Mann. Jona weigert sich danach, zum Training zu gehen. Als seine Mutter ihn in den Turnverein schickt, endet es ähnlich. Das ist typisch für ADHS-Kinder, erklärt, der Kinder- und Jugendpsyc­hiater Frank Beer. Sie finden keinen Anschluss, ecken an.

Jona merkt, dass er anders ist. Er zieht sich zurück, verlässt kaum noch das Haus. Genau dann wird aus der Diagnose ADHS ein psychische­s Problem, das behandelt werden muss, sagt Beer. „Es hängt damit zusammen, ob bei den Kindern und Eltern ein Leidensdru­ck entsteht“, sagt er. „Die Kinder merken, dass ihr Verhalten nicht der Norm entspricht. Sie werden viel geschimpft und ihre Impulsivit­ät erschwert ihnen den Kontakt zu Gleichaltr­igen. Das alles schadet ihrem Selbstwert­gefühl.“

Theo Kornder kennt das. In der Schulzeit schafft er es zunächst ganz knapp aufs Gymnasium. Aber nur, weil seine Oma jeden Nachmittag mit ihm Hausaufgab­en macht. „Irgendwann hieß es: Der ist alt genug, der muss das alleine können“, erinnert er sich. Von da an geht es bergab. Er wiederholt erst eine Klasse, kommt vom Gymnasium auf die Fachobersc­hule, schafft das Abitur aber nicht. Stattdesse­n fängt er an zu jobben. „Ich habe mich immer gefragt, was mal aus mir werden soll, wie ich es zu etwas bringen soll.“Dann hat er Glück, trifft auf seinen künftigen Schwiegerv­ater, der an ihn glaubt und ihm hilft, das Fachabitur nachzuhole­n. Kornder studiert und wird Sozialpäda­goge. Aber ohne diese Hilfe?

„Viele Jugendlich­e werden abhängig“, sagt die Ärztin Susanne Holtz-Joas. „Sie trinken, rauchen oder kiffen, um innerlich zur Ruhe zu kommen. Es gibt eindeutige Belege, dass ein Abgleiten in eine Sucht durch die Medikation verhindert wird.“Kornder ist froh, dass es bei ihm so kam. Und er ist froh über die Diagnose. „Hätte ich die Medikament­e nicht bekommen, wäre ich irgendwann vor Erschöpfun­g in eine Krise gerutscht“, vermutet er. „Ich vergleiche das immer mit einem Schuh. Ohne Methylphen­idat ist der Schuh offen, man kann laufen, aber es ist mühsam. Mit Methylphen­idat sitzt der Schuh.“

Auch Jona verträgt die Medikament­e gut. Verändert habe er sich nicht, sagt seine Mutter. Ob er selbst etwas bemerkt? „Ich habe ihn gefragt, da hat er geantworte­t, dass ihm nur auffalle, dass er weniger geschimpft werde.“Doch etwas Entscheide­ndes ist anders: Der Druck ist von der Familie und vor allem von Jona abgefallen. „Meine Tochter hat zu mir gesagt: Mama, ich will auch mal wieder was mit dir machen, aber du bist immer mit Jona beschäftig­t“, erinnert sie sich. Dazu kamen die ständigen Zweifel, etwas falsch gemacht zu haben. „Jetzt weiß ich, es liegt nicht an uns und es liegt nicht an ihm. Es ist ein Defekt, den man nicht wegerziehe­n kann.“

Die Krankheit und das Medikament sind umstritten Wie ein Schuh, der offen ist und nicht richtig sitzt

 ?? ?? Früher nannte man unruhige Kinder – nach der berühmten Geschichte von Heinrich Hoffmann – Zappel Philipp.
Früher nannte man unruhige Kinder – nach der berühmten Geschichte von Heinrich Hoffmann – Zappel Philipp.

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