Der Untergang
Vor 100 Jahren machte sich Deutschland die USA zum Feind: Der Befehl zum erbarmungslosen U-Boot-Krieg gilt als Wendepunkt des Ersten Weltkriegs. Aussagen der Verantwortlichen zeugen heute von militärischer Selbstüberschätzung
Auf den Kanzler kam es gar nicht mehr an, und den Kaiser hatten die Militärs längst weichgekocht, als heute vor 100 Jahren ein weltgeschichtliches Verhängnis seinen Lauf nahm: Am 1. Februar 1917 begann das Deutsche Reich systematisch einen betont rücksichtslosen U-Boot-Krieg. Er richtete sich nicht mehr nur gegen feindliche, sondern auch gegen neutrale Nationen. Damit machte sich das Kaiserreich die aufstrebende neue Weltmacht USA mit ihren gewaltigen Ressourcen an Kriegsgerät und Soldaten zum Feind. Eine rote Linie war überschritten.
Von da an ging es für Deutschland und das verbündete Österreich-Ungarn bergab. Jener 1. Februar 1917 wurde damit zum Wendepunkt im Ersten Weltkrieg. Die bis dahin neutralen Vereinigten Staaten brachen bereits zwei Tage nach dem deutschen U-BootKriegsbefehl die diplomatischen Beziehungen zu Berlin ab. Als deutsche Schiffe amerikanische Frachter versenkten, erklärte US-Präsident Woodrow Wilson am 6. April Deutschland offiziell den Krieg.
Zuvor hatten deutsche Generale, Admirale und Politiker den Konflikt mit der Neuen Welt regelrecht herbeigeprahlt. So tönte der Chef des Admiralstabs der Marine, von Holtzendorff: „Ich verbürge mich mit meinem Seeoffizierswort, dass kein Amerikaner das Festland betreten wird.“Der deutschnationale Vizekanzler Oskar Hergt meinte zu wissen: „Die Amerikaner können nicht schwimmen und nicht fliegen, sie werden nicht kommen.“
Tatsächlich landeten bereits nur ein Vierteljahr später, Anfang Juli, die ersten US-Truppen in Europa. Innerhalb eines Jahres verstärkten eine Million GIs die Reihen der Entente aus Frankreich, England und Russland. Am Ende standen zwei Millionen Amerikaner auf den Schlachtfeldern.
Erstaunlicherweise hatte Kaiser Wilhelm II. die Gefahr, dass die USA aktiv in das europäische Geschehen eingreifen könnten, realistischer eingeschätzt als seine Militärs. Er bemängelte, seine Marine habe zu wenige der damals neuartigen U-Boote. Deshalb werde er doch nicht die Dummheit begehen, einen Waffengang mit den USA zu provozieren. Doch der Kaiser war nur noch eine aufs Prächtigste aufgeputzte, Orden verteilende, impe- riale Galionsfigur. Das Sagen hatte eine Art Militärdiktatur um Feldmarschall Hindenburg und General Ludendorff. Ihr Sprung ins Dunkle war pure Verzweiflung: Ein Angebot Berlins vom 12. Dezember 1916, in Friedensverhandlungen einzutreten, hatten die Alliierten brüsk abgelehnt.
Unbeschränkter U-Boot-Krieg hieß damals warnungslose Torpedosalven auch gegen Handels- und andere zivile Schiffe. Am Anfang des Krieges hatten manche U-Boot-Kapitäne anvisierte Schiffe noch kurz vor Abschuss der Torpedos gewarnt, damit sich Matrosen in Rettungsboote retten konnten. Doch zunehmend wurde der U-BootKrieg erbarmungsloser. Bereits wenige Monate nach Kriegsbeginn kam es am 7. Mai 1915 zur Katastrophe: Vor der irischen Küste versenkte das deutsche U-20 den Luxusdampfer „Lusitania“. 1200 der 2000 Passagiere des Schiffs, das auch Munition als Fracht an Bord hatte, starben – darunter viele Frauen und Kinder. Nach scharfen Protesten der USA setzte der deutsche Kaiser die brutalste Form des U-BootKrieges vorübergehend aus.
Bis der 1. Februar 1917 kam: Der von nun an praktizierte gnadenlose Unterwasserkrieg galt als vermeintliche Wunderwaffe gegen die nicht weniger umstrittene Seeblockade, die die Briten schon seit November 1914 gegen Deutschland verhängt hatten. Sie blockierten den Ärmelkanal und die Nordsee mit allen maritimen Mitteln und schnitten Deutschland von jeglicher Warenzufuhr aus Übersee ab. Mit verheerenden Folgen.
Etwa im berüchtigten „Steckrübenwinter“1916/17. Rüben – als Suppen, Aufläufe oder Marmelade – wurden zum Grundnahrungsmittel der Deutschen. Hohlwangige Gestalten drängten sich in langen Schlangen – den berüchtigten „Hungerpolonaisen“– vor den Suppenküchen. Im Januar 1917 kam es zu Protesten vor dem Hamburger Rathaus. Insgesamt starben 800000 Deutsche an Hunger und Unterernährung.
Der Druck an der sogenannten „Heimatfront“wuchs, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg aufzunehmen und seinerseits England von Einfuhren auf See abzuschneiden. Ganze Schulklassen und Damenkränzchen sandten Eingaben nach Berlin, von rechts bis zur SPD hieß die Parole: Lieber Krieg mit Amerikanern als Verhungern. Ausschlaggebend für das Harakiri auf See waren letztlich die Versprechungen der Marine gewesen, innerhalb von sechs Monaten werde Großbritannien in die Knie gezwungen.
Auf der alles entscheidenden Sitzung der Staats- und Kriegsführung gab es schon keine gründliche Debatte mehr. Der zögerliche Reichskanzler Bethmann Hollweg wurde schlicht vor vollendete Tatsachen gestellt. „Als ich am Morgen eintraf, war die Entscheidung de facto bereits gefallen“, schrieb er in seinen Memoiren. Wilhelm II. fertigte die „Allerhöchste Ordre“aus: „Ich befehle, dass der uneingeschränkte Unterwasserkrieg am 1. Februar mit voller Energie einsetzt.“Mit seiner Unterschrift näherte sich das Kaiserreich seinem Zusammenbruch.