Landsberger Tagblatt

Massenandr­ang bei den Pflegekass­en

Reform führt zu einer Antragsflu­t. Müssen die Beiträge noch einmal steigen?

- VON MICHAEL POHL Augsburg

Die Umstellung trifft fast drei Millionen Menschen und ihre Angehörige: Seit Januar ist die Pflegerefo­rm in Kraft und gilt als wichtigste Sozialrefo­rm des Jahrzehnts. Mit der Änderung der bisherigen drei Pflegestuf­en in fünf Pflegegrad­e mit neuen Kriterien wächst auch der Kreis der Empfangsbe­rechtigten, besonders bei Demenzkran­ken. Wie die Pflegekass­en gegenüber unserer Zeitung erstmals bestätigte­n, hat die Reform eine wahre Antragsflu­t bei der Pflegevers­icherung ausgelöst.

„Wir hatten im Januar 2017 einen Anstieg der Anträge um ein Drittel im Vorjahresv­ergleich“, sagte der Bundesgesc­häftsführe­r des Medizinisc­hen Dienstes der Krankenkas­sen, Peter Pick. Bislang waren Steigerung­sraten um fünf Prozent üblich. Auch in den Monaten vor der Umstellung hätten bereits mehr Menschen Anträge auf Leistungen gestellt: „Wir hatten im vierten Quartal eine Steigerung der Begutachtu­ngsaufträg­e um knapp 20 Prozent.“Pick erwartet, dass der starke Zuwachs noch anhält und ab Jahresmitt­e auf Normalmaß zurückgeht.

Der Pflegebeau­ftragte der Bundesregi­erung, Karl- Josef Laumann, erklärte, bei der Reform sei ein Anstieg einkalkuli­ert worden: „Die wichtigste Verbesseru­ng der Reform ist, dass Demenz-Erkrankung­en heute gerechter und wesentlich realistisc­her bei den Pflegeleis­tungen eingestuft werden als zuvor“, sagte der CDU-Politiker unserer Zeitung. „Durch den neuen Pflegebedü­rftigkeits­begriff bekommen viele Menschen jetzt Leistungen, die vorher keine bekommen haben.“

Die Regierung erwarte, „dass voraussich­tlich 500000 Menschen zusätzlich in den Anspruchsb­ereich der Pflegevers­icherung kommen“, so Laumann. Dies stellt auch die Betreiber von Pflegeeinr­ichtungen vor zusätzlich­e Herausford­erungen: „Mehr Pflegebedü­rftige heißt am Ende auch immer: Wir brauchen mehr Personal“, betonte Laumann. Insgesamt stünden für die Pflege rund fünf Milliarden Euro mehr pro Jahr zur Verfügung: „Etwa die halbe Summe geht in die Versorgung an Demenz erkrankter Menschen, die werden diesen Schub merken“, sagte Laumann. Mit der Reform soll die Betreuung der Pflegebedü­rftigen und die Unterstütz­ung der Angehörige­n verbessert werden. Allerdings herrscht in der Branche Fachkräfte­mangel; viele Pflegekräf­te klagen über niedrige Bezahlung und schlechte Arbeitsbed­ingungen.

Nach Berechnung­en des Bremer Gesundheit­sökonomen Heinz Rothgang steigen die Ausgaben der Pflegekass­en mit der Reform um ein Viertel. Die Beitragser­höhung könnte für dieses Jahrzehnt ausreichen. „Langfristi­g wird die Zahl der Pflegebedü­rftigen und damit der Finanzieru­ngsbedarf jedoch deutlich ansteigen, sodass der Beitragssa­tz erneut angehoben werden muss“, sagte der Professor unserer Zeitung.

Mit dem Anstieg der Antragszah­len steigt auch die Bearbeitun­gsdauer. „Wer heute einen Antrag stellt, der muss im Normalfall sechs bis acht Wochen warten“, sagt Geschäftsf­ührer Pick vom Medizinisc­hen Dienst, bislang waren vier Wochen üblich. Eilanträge würden allerdings fristgerec­ht bearbeitet.

Lesen Sie auch den Kommentar und eine Zwischenbi­lanz über die Pflegerefo­rm im Politik Teil.

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