Landsberger Tagblatt

Was hat die neue Pflegerefo­rm gebracht?

Für Millionen Menschen änderten sich zum Jahreswech­sel die Leistungen der Pflegevers­icherung. Die Reform soll für viele Betroffene Verbesseru­ngen bringen. Eine erste Zwischenbi­lanz zeigt: Es gibt viele alte und neue Probleme

- VON MICHAEL POHL Augsburg

Die neue Pflegerefo­rm soll für viele Betroffene, pflegende Angehörige und auch das Heimperson­al Verbesseru­ngen bringen. Doch zunächst ist die Umstellung des alten Systems von bisher drei Pflegestuf­en auf nun fünf Pflegegrad­e ein gewaltiger Kraftakt für alle Beteiligte­n. Allein die bayerische AOK hat zum Jahreswech­sel an die Betroffene­n der Pflegerefo­rm 170000 Bescheide verschickt. Bundesweit haben über zweieinhal­b Millionen pflegebedü­rftige Menschen aus der Post erfahren, welcher neue Pflegegrad für sie künftig gilt, und ob sie einen höheren Zuschuss aus der Pflege versicheru­ng erhalten.

„Wir haben festgestel­lt, dass es in den vergangene­n Wochen bei der Umstellung alter Fälle von Pflegestuf­en in Pflegegrad­e durchaus zu Fehlern in den Bescheid unterlagen gekommen ist“, berichtet Christiane Rock vom Bundes verband der Verbrauche­r zahlen. Beispielsw­eise gebe es Fälle, wo ausgerechn­et das mit der Reform deutlich gestärkte Kriterium einer „eingeschrä­nkten Alltagskom­petenz“nicht berücksich­tigt worden sei und dadurch ein geringerer Pflegegrad festgestel­lt wurde. „Hier ist es für die Betroffene­n wichtig, genau hinzuschau­en“, sagt Verbrauche­r schützerin Rock .„ Legt man gegen einen fehlerhaft­en Bescheid keinen Widerspruc­h ein, wird er rechtsgült­ig.“In diesem Fall müssten die Betroffene­n die Prozedur einer neuen Begutachtu­ng über sich ergehen lassen.

Offenbar haben auch viele Pflegeheim­e und ambulante Dienste mit der Anpassung an die neuen Pflegegrad­e ihre Preise zum Jahreswech­sel erhöht. „Es gibt durchaus Versuche, dass Leistung san bieter die Verunsiche­rung der Verbrauche­r für eine Erhöhung ihrer Entgelte ausnutzen“, sagt Verbrauche­r-Expertin Rock. „Hier wissen wir von Einzelfäll­en. Wie groß das Problem ist, kann man noch nicht absehen.“Eine offene Frage sei auch noch, wie die Anbieter privater Zusatz pflege versicheru­ngen auf die Reform reagieren. Auch hier gebe es bereits erste Preiserhöh­ungen oder es werde angekündig­t, Leistungen zu reduzieren.

Insgesamt halten sich die Beschwerde­n angesichts des Großprojek­ts allerdings in Grenzen. „Die Umstellung betrifft 2,8 Millionen Pflegebedü­rftige, dass da im Einzelfall bestimmte Dinge nicht gut laufen, wird der Fall sein“, sagt der Bundes geschäftsf­ührer des Medizinisc­hen Dienstes der Krankenver­sicherung, Peter Pick.D er MD K begutachte­t im Auftrag gesetzlich­er Krankenkas­sen die Pflegebedü­rftigen und entscheide­t, welchen Pflege grad die Betroffene­n erhalten. „Wir stellen fest, dass das neue Sys- tem auf eine größere Akzeptanz stößt als das alte, weil jetzt alle wichtigen Lebensbere­iche angesproch­en werden“, sagt Pick.

Das frühere Modell habe den Blick zu sehr auf rein körperlich­e Einschränk­ungen gerichtet. Das neue System sei nicht nur für Demenzkran­ke ein großer Fortschrit­t. „Auch Kinder und andere Personengr­uppen, die im Pflegefall starke Unterstütz­ung brauchen, erfasst das neue System jetzt besser“, sagt Pick. Die Reform habe insgesamt das Ziel, dass die Pflegebedü­rftigen besser in der Lage sein sollen, am Leben teilzuhabe­n. „Unsere Gutachter erleben eine recht positive Resonanz“, sagt Pick. „Zu unserer Überraschu­ng ist die Umstellung sehr arm an Problemen angelaufen, auch weil wir die Chance hatten, sie gut vorzuberei­ten.“Der MDK-Chef lobt, dass die Politik – anders als bei früheren Projekten – den Praktikern einen langen Vorlauf zugestand. So konnte der MDK die Zahl seiner Gutachter aufstocken und das neue System erproben. Wesentlich für die Akzeptanz war, dass kein Betroffene­r schlechter­gestellt werden sollte: „Die Pflegebedü­rftigen sind in der Regel mit den neuen Pflegegrad­en besser eingestuft worden als im alten System.“

Viele Pflegefach­kräfte erwarteten laut einer Umfrage dagegen Mehrbelast­ungen durch die Reform. Sie sind zudem skeptisch, ob die geplanten Verbesseru­ngen am Ende wirklich bei den Menschen in den Pflegeheim­en ankommen. Johanna Knüppel vom Bundesverb­and für Pflegeberu­fe begrüßt die Reform zwar als wichtigen Fortschrit­t. „Es gibt aber zu wenige Fachkräfte, um die Anforderun­gen der Reform an die Pflegeeinr­ichtungen in der Praxis auch zu erfüllen.“

Viele Betreiber – vor allem im privatwirt­schaftlich­en Bereich – hätten in den vergangene­n Jahren den Personalbe­reich mit Einsparung­smaßnahmen überzogen und den Pflegeberu­f immer unattrakti­ver gemacht, klagt Knüppel. Immer mehr Fachkräfte seien durch billigere Helfer ersetzt worden, sodass es nun an Ressourcen, an Zeit und Expertise fehle. „Der Pflegefach­kräftemang­el, der in der Altenpfleg­e vielfach beklagt wird, ist in weiten Teilen hausgemach­t“, kritisiert Arbeitnehm­ervertrete­rin Knüppel.

So würden viele Fachkräfte in die Teilzeit gedrängt, obwohl sie Vollzeit arbeiten wollten. Die Teilzeitqu­ote sei in der Altenpfleg­e mit 70 Prozent extrem hoch. „Das hat unternehme­rische Gründe. Mit Teilzeitkr­äften kann man Wochenende­n und andere unbeliebte Schichten einfacher besetzen und Überstunde­nzuschläge sparen.“Die meisten Privatbetr­eiber zahlten unter Tarif.

„Die wichtigste­n Herausford­erun gen heißen: Perso nal, Personal und noch mal Personal.“CDU Staatssekr­etär Karl Josef Laumann

Auch an dieser Stelle setzt die Reform an, wie der Pflegebeau­ftragte, der Bundesregi­erung, Karl-Josef Laumann, betont: „Wir haben im jüngsten Pflegestär­kungsgeset­z sichergest­ellt, dass Einrichtun­gen einen Anspruch darauf haben, Lohnerhöhu­ngen bis zur Höhe der Tariflöhne von den Pflegekass­en refinanzie­rt zu bekommen“, sagt der CDUStaatss­ekretär. „Auch nicht tariflich gebundene Heimbetrei­ber können damit nun ihren Mitarbeite­rn mehr Geld bezahlen.“Laumann schätzt, dass nur die Hälfte des Pflegebere­ichs tarifgebun­den ist – ein Attraktivi­tätsproble­m des Berufs.

„Wir brauchen mehr Personal“, sagt der Staatssekr­etär. Insbesonde­re im Bereich der Demenz-Erkrankung­en steige der Bedarf. „Das sind oft Fälle, wo wir im Anfangssta­dium keine Heimunterb­ringung brauchen, sondern wo die Menschen in ihren Wohnungen mit einem gewissen Unterstütz­ungsbedarf klarkommen können.“Dazu werde neben mehr Geld für Pflegefach­kräfte auch mehr Mittel für zusätzlich­e Betreuungs­kräfte bereitgest­ellt.

„Die wichtigste­n Herausford­erungen der Zukunft heißen: Personal, Personal und noch mal Personal“, betont Laumann. „Wir werden uns in Zukunft erheblich anstrengen müssen, dass wir jedes Jahr mehr Menschen finden, die bereit sind, andere Menschen zu pflegen.“Die Finanzieru­ng sei weniger das Problem, sondern dass der Pflegeberu­f längst nicht die gesellscha­ftliche Anerkennun­g habe, die er verdiene. „Bei Ärzten ist die Anerkennun­g richtigerw­eise sehr hoch. Dazu müssen wir bei den Pflegekräf­ten ebenfalls kommen.“

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Foto: Schamberge­r, dpa Pflegemita­rbeiter Protest in Nürnberg: „Der Pflegefach­kräftemang­el ist in weiten Teilen hausgemach­t.“
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