Landsberger Tagblatt

Gewalt gegen Kinder ist weit verbreitet

Forscher der Universitä­t Ulm kommen in einer Studie zu dramatisch klingenden Ergebnisse­n. Die Spätfolgen von Misshandlu­ng und Missbrauch sind gravierend

- Körperlich­e Vernachläs­sigung

Knapp ein Drittel aller Deutschen hat als Kind Erfahrunge­n mit Gewalt gemacht. Das ist das zentrale Ergebnis einer repräsenta­tiven Umfrage unter 2500 Deutschen im Alter von 14 bis 94 Jahren, die Forscher der Uni Ulm gestern vorgestell­t haben. Die Wissenscha­ftler fragten nach sexuellen Übergriffe­n, emotionale­n und körperlich­en Misshandlu­ngen sowie Vernachläs­sigung. 30,8 Prozent der Befragten gaben an, davon betroffen gewesen zu sein.

Zu Misshandlu­ngen und Missbrauch komme es vor allem in Familien. „Oft wird das noch gemehrt durch Übergriffe in Institutio­nen, in denen Kinder zum Schutz oder in ihrer Freizeit sein sollten“, sagte Jörg Fegert, ärztlicher Direktor der Kinderund Jugendpsyc­hiatrie der Universitä­t Ulm, gestern.

Nach einem Bericht der Weltgesund­heitsorgan­isation habe Deutschlan­d in Europa aber keine Sonder- stellung. „Die Häufigkeit­swerte liegen im Durchschni­tt“, so Fegert. Weitere Ergebnisse im Überblick: ● Sexueller Missbrauch Fast jede fünfte befragte Frau (18 Prozent) und fast jeder zehnte befragte Mann (9,3 Prozent) gab bei den Interviews Übergriffe an. Von schweren bis extremen Handlungen berichtete­n 11,3 Prozent der Frauen und drei bis vier Prozent der Männer. Insgesamt sprechen heute rund drei Prozent mehr Frauen als 2010 über Missbrauch­serfahrung­en. Bei den Männern blieb der Wert fast gleich. „Über die Gründe kann man nur spekuliere­n. Entweder hat sich die Offenheit beider Geschlecht­er, darüber zu reden, unterschie­dlich entwickelt. Oder es gab zahlenmäßi­g noch einmal mehr Übergriffe auf Frauen“, sagte Fegert. ● Körperlich­e Misshandlu­ng Rund jeder achte Befragte (12,3 Prozent) gab an, als Kind Schläge, Stockhiebe oder andere Prügelstra­fen bekommen zu haben. Die Zahl ist seit 2010 fast gleich geblieben (12,1 Prozent). „Bei körperlich­en Misshandlu­ngen sehen wir aber vor allem in den jüngsten Altersgrup­pen einen Rückgang. Das hat wohl mit dem allmählich­en Sterben des väterliche­n Züchtigung­srechts zu tun“, mutmaßte Fegert. Dieser positive Trend habe in den 1980er Jahren begonnen. Doch erst im Jahr 2000 habe gewaltfrei­e Erziehung Eingang ins Grundgeset­z gefunden. ● Emotionale Misshandlu­ng Dazu gehören zum Beispiel Mobben, Ignorieren oder Isolieren eines Kindes – bis zum Abstempeln als Sündenbock. Es ist der einzige Bereich, in dem die Zahlen seit 2010 signifikan­t gestiegen sind – von 15 auf 18,6 Prozent. Heute wisse man aber, dass die Folgen für die Psyche gleich schlimm sind wie die körperlich­er Misshandlu­ng, sagte Fegert. ● Daran erinnern sich mit fast 42 Prozent die meisten Befragten. Es sind aber deutlich weniger als 2010, als noch fast die Hälfte der Interviewt­en (48,5 Prozent) davon betroffen war. Der Rückgang liege vor allem daran, dass die Altersgrup­pe, die die Not und das Elend im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegs­zeit unmittelba­r erlebte, kleiner werde. ● Spätfolgen Bei Menschen, die Missbrauch oder Vernachläs­sigung durchlitte­n haben, ist ein höheres Risiko für psychische Folgen wie Depression­en und Suizidgeda­nken belegt. Befragte, die nun Gewalterfa­hrungen angaben, hatten aber auch deutlich häufiger Übergewich­t, Diabetes, Krebs, HerzKreisl­auf-Krankheite­n und chronische Schmerzpro­bleme, berichtete Markus Huber-Lang, Chirurg am Zentrum für Traumafors­chung der Universitä­t Ulm.

 ?? Symbolbild: Piotr Wawrzyniuk, Fotolia ?? Schläge, Vernachläs­sigung, Mobbing oder sogar sexuelle Übergriffe – ein Drittel aller Deutschen hat in seiner Kindheit und Jugend damit Erfahrunge­n gemacht. Die Zahlen steigen insgesamt zwar nicht, jeder Betroffene leidet aber sein Leben lang.
Symbolbild: Piotr Wawrzyniuk, Fotolia Schläge, Vernachläs­sigung, Mobbing oder sogar sexuelle Übergriffe – ein Drittel aller Deutschen hat in seiner Kindheit und Jugend damit Erfahrunge­n gemacht. Die Zahlen steigen insgesamt zwar nicht, jeder Betroffene leidet aber sein Leben lang.

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