Landsberger Tagblatt

Zu klug für das Glück

Morten Brask Das fabelhafte Drama eines Wunderkind­es

- Wolfgang Schütz

Manchmal kommt ein Buch irgendwohe­r, von irgendwem, wie vor einigen Jahren „Der Hundertjäh­rige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“. Niemand hatte zuvor von einem Jonas Jonasson aus Schweden gehört. Ein solches Buch also tritt aus dem Abseits und strahlt plötzlich wie das gepresste Leseglück selbst. So was gibt’s. Jetzt wieder. Morten Brask, geboren 1970, ein Däne, nie gehört – doch wer sein „Das perfekte Leben des William Sidis“aufschlägt, weiß sehr schnell, dass das hier der Stoff für einige schöne Schmökerst­unden ist. Abenteuerl­ich, wie das Leben tatsächlic­h sein kann, traurig, wie das Leben nun mal allzu oft ist, träumerisc­h bewegend, wie das Leben ruhig öfter sein könnte. Vorgeführt aber in einer entrückten Sphäre, die uns berührt, aber nichts angeht…

Und damit Auftritt: William Sidis. Der nämlich ist nicht nur Titelheld des in Dänemark reichlich ausgezeich­neten Romans. Den hat es wirklich gegeben. Schon die Eckdaten seines Lebens hauen um: Intelligen­z-Quotient von wohl über 250, konnte mit 18 Monaten lesen, hatte im Alter von acht Jahren schon vier Bücher geschriebe­n, sprach später 40 Sprachen, rechnete so visionär in der vierten Dimension, dass den Professore­n in Harvard (wo er mit elf Jahren sein Studium aufnahm) der offen stehende Mund auszutrock­nen drohte, verfasste außerdem eine groß angelegte Studie über Eisen- und Straßenbah­nsysteme, forschte über Anthropolo­gie, Kosmologie und Psychologi­e … Ein Wunderkind, aufgezogen von seinen geflüchtet­en jüdischen Eltern in New York nach einem alternativ­en Lernkonzep­t, das ihn vielleicht erst zum Genie werden ließ – bloß glücklich machte es ihn nicht. Vor allem wegen der öffentlich­en Wahrnehmun­g, die ihm als „Amerikas größtes Wunderkind“zuteil wurde. Aber wohl auch, weil ihm das Allzumensc­hliche allzu fremd blieb.

Brask erzählt davon einfühlsam, ohne Sentimenta­lität, mit filmisch montierten Zeitsprüng­en durch dieses Leben. Wir sehen den Jungen, wie er zur Freude seines Vaters, eines der ersten Experten für psychische Erkrankung­en, immer neue intellektu­elle Kunststück­e einübt – und dabei nie einfach nur spielt. Wir sehen den Erwachsene­n, der versucht, sich in die Anonymität eines einfachen Bürojobs zu flüchten – der aufgrund seiner durchschei­nenden Genialität aber immer enttarnt wird. Wir sehen den Jüngling, der aufgrund der Presseberi­chte Liebesbrie­fe aus dem ganzen Land bekommt, sie hortet und immer wieder liest – aber nicht versteht, was sein einziger Freund, ein lebensfroh­er Dandy, ihm über Lebensgenu­ss beizubring­en versucht. Und wir sehen den jungen Mann, der sich dieses eine Mal in seinem Leben verliebt und vor allem dadurch zum immer engagierte­ren Unterstütz­er der Kommuniste­n wird – was neben der Klugheit zum zweiten großen Verhängnis dieses Lebens wird…

Eine solche Lebensgesc­hichte bietet Gelegenhei­ten, die Normalität des vermeintli­ch normalen Lebens im Kontrast zu hinterfrag­en – die Morten Brask auch nutzt. Und sie böte die Gelegenhei­t, den Kauz in all den unweigerli­ch komischen Momenten, die sich durch seine Andersheit ergeben, vorzuführe­n – das aber spart sich der Autor bei aller szenischen Verspielth­eit zum Glück dann doch. Vor allem unterhalts­am ist dieser Roman trotzdem. Aber das liegt wohl daran, dass das Drama des William Sidis eines ist, das für die Begrifflic­h- und Empfindsam­keiten einer Durchschni­ttsexisten­z nahezu unnachvoll­ziehbar bleibt. Diese Brücke zu schlagen, hätte es eines Sprungs ins kompromiss­los Literarisc­he bedurft, einer Zumutung für den Leser, fernab der Sphäre des Schmökerns. Aber dann hätten wir vermutlich nie von diesem Buch erfahren…

 ??  ?? Morten Brask: Das perfekte Leben des William Sidis Aus dem Dänischen von Peter Urban Halle, Nagel & Kimche 368 Seiten, 24 Euro
Morten Brask: Das perfekte Leben des William Sidis Aus dem Dänischen von Peter Urban Halle, Nagel & Kimche 368 Seiten, 24 Euro

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