Auf einmal scheint alles möglich
In Berlin ist eine Partei im Ausnahmezustand zu beobachten: Der einstimmig gewählte Parteichef Martin Schulz entfacht eine nicht für möglich gehaltene Begeisterung. Und nun fliegen auch seinem Vorgänger Gabriel die Herzen zu
Minutenlang tost rhythmischer Applaus unter der genieteten Stahlträgerdecke der riesigen Backsteinhalle der Arena Berlin, die optisch keinen Hehl aus ihrer proletarischen Vergangenheit als Omnibus-Betriebshof macht. Die Stimmung erinnert an ein Rockkonzert, doch der frenetische Jubel gilt einem eigentlich unscheinbaren Mann mit Halbglatze, Vollbart und Brille. „Jetzt ist Schulz“steht es weiß auf rot auf unzähligen Transparenten.
Die SPD kürt beim Sonderparteitag ihren neuen Parteivorsitzenden mit 605 von 605 gültigen Delegiertenstimmen bei drei ungültigen Stimmen – ein historischer Wert in einer Partei, die für ihre Streitlust bekannt ist. Noch nie hat ein SPDChef in der Nachkriegszeit dieses Traumergebnis erzielt. Auch die Ernennung zum Kanzlerkandidaten per Akklamation fällt einstimmig aus. „Ich glaube, dass dies der Auftakt zur Eroberung des Kanzleramts ist“, sagt Martin Schulz. Dafür, das zeigt er vom ersten Moment am Rednerpult an, wird er kämpfen, ackern und leiden. Schulz reißt die rund 3500 Genossen in der Halle mit, betont die Herkunft aus der Arbeiterklasse, seine eigene und die der Partei. Ein einfacher Mann aus Würselen in Nordrhein-Westfalen, das fünfte Kind „einfacher und sehr anständiger Leute“, das die Schule geschmissen hat und nach geplatzter Fußballerkarriere fast die Orientierung verlor – so präsentiert sich der Sozialdemokrat, der Angela Merkel von der CDU am 24. September an der Spitze der Regierung ablösen will. Aussagen zu möglichen Koalitionspartnern vermeidet Schulz. Die SPD werde im anstehenden Wahlkampf für sich und „nicht gegen andere kämpfen“. Und sie werde dies ohne „Herabwürdigung des politischen Gegners“tun, die es in Deutschland nicht geben dürfe.
Eine abschließende programmatische Rede wolle er nicht halten, erst Ende Juni werde die SPD in Dortmund ihr Programm verabschieden. Schulz versucht, Emotionen zu wecken und es gelingt ihm auch: „Gerechtigkeit, Respekt und Würde“, darum werde sich seine Politik drehen, viele Male fallen diese Schlagworte. Um die „hart arbeitende Mitte“will er sich kümmern, „die 90 Prozent der Menschen, die sich jeden Tag abrackern und damit unser Land gut machen“. Viele Bürger seien beruflich enorm belastet, müssten sich gleichzeitig um ihre Kinder kümmern und oft noch die eigenen Eltern unterstützen. „Diese Menschen verdienen unsere Unterstützung“, sagt Schulz, er werde als Kanzler in Schulen, Universitäten, Kitas und Pflege investieren. Die SPD wolle für alle Menschen Chancen schaffen, unabhängig von ihrer Herkunft eine gute Bildung und Ausbildung zu bekommen.
Bildung müsse in Deutschland gebührenfrei sein und zwar von der Kita bis zum Studium – das gelte auch für Meister- und Berufsbildungskurse. Zu mehr Chancengerechtigkeit solle auch ein „Rechtsanspruch auf Plätze an Ganztagsschulen für alle, die es wollen,“beitragen. Der Bund müsse Schulen bei der Sanierung der Gebäude und auch beim Thema Schulsozialarbeit unterstützen. Schulz weiter: „Familiäre und soziale Probleme landen in den Schulen, dort müssen sie angegangen werden. Das kostet Geld, aber das sind die Investitionen, die wir brauchen.“Scharf kritisierte er die Unionsparteien, die über Steuersenkungen und die Abschaffung des Solidaritätszuschlags diskutieren, was zu gewaltigen Mindereinnahmen führe. CDU und CSU planten, den Rüstungsetat zu erhöhen und gleichzeitig die Sozialausgaben zu kürzen. „Sehr gut, dass es dazu nicht kommen wird“, ruft Schulz. In der Arbeitsmarktpolitik fordert er das Recht, von einer Teilzeitstelle auf Vollzeit zurückzukehren. Seinen Vorschlag, das Arbeitslosengeld I unter bestimmten Voraussetzungen bei laufender Weiterbildung bis zu vier Jahre lang zu bezahlen, verteidigt er: „Qualifizierungsmaßnahmen sind kein Frühverrentungsprogramm, sondern angesichts von Facharbeitermangel der einzig richtige Weg.“Auch die Befristung von Arbeitsverträgen ohne sachlichen Grund müsse auf den Prüfstand.
In Sachen Außenpolitik hält der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments ein flammendes Plädoyer für die Völker verbindende Wirkung der Europäischen Union. Und geißelt den „brandgefährlichen Populismus von Trump und Erdogan“– riesiger Beifall im Saal.
Fast ebenso viel Begeisterung wie Schulz erntet der Mann, der ihm den Weg geebnet hat. Der scheidende Parteivorsitzende Sigmar Gabriel, während seiner Amtszeit eher ungeliebt, hatte auf eine eigene Kanzlerkandidatur verzichtet. Mit Martin Schulz sei ein Aufbruch möglich, „weil er nicht wie ich für die Große Koalition steht“, sagt Gabriel. „Ich glaube, dass ich mit dieser Entscheidung der Partei den größten Dienst erwiesen habe“, sagt der Bundesaußenminister mit feuchten Augen. Im Wahlkampf wolle er eine aktive Rolle spielen. Gabriel: „Der Trend ist jetzt wieder ein Genosse.“
Die große programmatische Rede soll im Juni folgen