Es ist viel zu spät, ein Pessimist zu sein
Nessi Tausendschön zeigt sich bissig, nachdenklich, charmant und temperamentvoll bei ihrem Auftritt in Egling
Wenn die Vorrede lustiger ist als das Programm, setze sie das unter Druck, kommentierte Nessi Tausendschön die traditionelle Begrüßung in Gedichtform von Heinrich Widmann im voll besetzten Traditionswirtshaus. Mit dem Titelsong aus der „Wunderbaren Welt der Amnesie“, der vor zwei Jahren, als sie den Auftritt in Egling wegen einer Grippe absagen musste, als Zugabe vorbereitet war, eröffnete Tausendschön (Gänseblümchen) expressiv und mit brillanter, über mehrere Oktaven reichender Stimme, die auch im Jazz zuhause ist, zusammen mit dem kanadischen Gitarristen, der gleichzeitig die Fußtrommel bediente und einen umwerfenden Sound erzeugte, den „tatortlosen“Abend mit Kabarett der Extraklasse.
Sich wider den Zeitgeist und die Politik einer konsumorientierten Wegwerfgesellschaft in beschleunigten Zeiten „knietief im Paradies“aufbäumend, assoziierte die Künstlerin „knietief in der Scheiße“, in der sich Europa im Moment befände, mit den vielfältigen Paradiesen, für Betten, Pudding, Kinder und sogar Nackenstützen. Letztere brauche die Kanzlerin, denn „bei der Rückgratverteilung wurde über der Uckermark wohl nur Knetgummi abgeworfen“. Milliardenverträge seien der doch wichtiger als Menschenrechte. „Wären Adam und Eva Chinesen gewesen, hätten wir das Paradies noch, denn die hätten statt des Apfels die Schlange gegessen“.
Wenn sie mit dem Bogen zart über die singende Säge strich, klänge dies wie ein „handgemachter Tinnitus“. Sie wolle die Welt verbessern, neu vermessen, denn „es ist viel zu spät, ein Pessimist zu sein“, Humor wäre jedoch nicht jedermanns Sache. „Darf eine Frau überhaupt Sportreporterin sein“, ja sie darf, wenn sie wie Tausendschön, am Reporterinnentisch Platz nehmend, eine sensationelle Livereportage über die „Weltmeisterschaft im Kunstvögeln – Art fucking“in euphorischem Sportreporterslang herunterrattert. Grandios, die Deutschen lägen vorn, mit der sauber „eingesprungenen Gemächtwende“. Auf eine eigene Frage „habe ich das nötig“, gab sie die Antwort, „nein habe ich nicht, aber es macht mir Freude“.
Nach der Pause erschien Nessi Tausendschön im 70er-Jahre Retrokleid mit zwei zauberhaft tönenden kanadischen Ukulelen, gefertigt aus Zigarrenkisten. Übrigens, „die Kanadier wollen jetzt auch eine Mauer bauen, und raten Sie mal, wer die bezahlt“. Als „Herrin der Süchte“hatte sie bereits viermal das Rauchen aufgegeben, sie parodiert frech, hintersinnig und klug, für die dazu passenden Bewegungen wurde eigens ein Choreograf engagiert, den Erfolg demonstriert sie mit Mackenzie sogar synchron. Sie habe neben einem Aquarium auch Freundinnen, die sie in gebärende und nicht gebärende unterteilt. Wie Mutti Merkel habe sie selbst keine Kinder, und Kondome benutzte sie nicht, um zu verhüten, sondern um zu fordern, denn, „wer in der globalisierten Welt bestehen will, darf sich nicht von einer Gummiwand aufhalten lassen“.
Chirurgin wollte sie werden und niemals vor lachenden Menschen die „Lustigkeitshure“geben. Das Leben wäre an sich eine ständige Castingshow, das ginge bereits mit dem Sperma los, nur einer komme durch. Als witziger Jongleur „overbridged“William Mackenzie die Zeit, in der sich Tausendschön für ihren Auftritt des sich am Bierkrug und Stehpult festhaltenden Parteivorsitzenden der CSU stylte.
Als Nachschlag eines facettenreichen Programms, bei dem schnörkellos alle kabarettistischen Register gezogen wurden, dem „der deutsche Horizont bleibt eine Raute“zum Trotz, sang Tausendschön den „Ziegenfickerblues“. „Denk ich an Erdogan in der Nacht, bin ich um meinen Schlaf gebracht“. So geht exquisites Kabarett, das, ohne Manuskriptvorlage auskommend, bissig, nachdenklich, charmant und temperamentvoll das Publikum total begeistert.