Besser als Wikipedia? Die Krise des Islam
Ein Wälzer feiert die Buch-Enzyklopädie Vom fatalen Zerfall der Gesellschaften
Der Brockhaus in seiner ehrwürdigen Druckform ist eingestellt. Wer wollte also in Zeiten grenzenloser Datenspeichermöglichkeiten mit kostenlosem Zugriff ernsthaft noch mit einem Buch im Rennen der Enzyklopädien antreten? Die deutsche Wikipedia hat über zwei Millionen Artikel, die englische über 5,3 – wer meint, das noch in Papier aufwiegen zu können?
Die Franzosen natürlich, wer sonst. Dort haben schließlich dereinst auch die Aufklärer um Diderot und d’Alembert mit ihrer „Encyclopédie“den Maßstab des modernen Nachschlagewerks gesetzt, 70000 Artikel, viel mehr kommentierend als bloß rekapitulierend – und darum auch immer wieder zensiert. In dieser Tradition muss man es wohl verstehen, wenn die Pariser Gelehrten Florence Brauchstein und JeanFrançois Pépin nun „1 Kilo Kultur“vorlegen und damit „Das wichtigste Wissen von der Steinzeit bis heute“versprechen. Einordnung und Redaktion statt bloßer Häufung von Erklärung. Gegliedert in elf epochale Abteilungen mit umfangreichem Namensregister am Ende.
Freilich haben eifrige Leser trotzdem schon Fehler entdeckt und befremdliche Schwerpunktsetzungen: nur elf Zeilen für Schiller, fünfeinhalb Seiten dagegen für Kant. Aber die zwangsläufig straffen Texten haben vor allem in historischen Abrissen – etwa zu Ländergeschichten – Qualität. Besser als Wikipedia? Als Text: ja. Bilder dazu fehlen allerdings.
C. H. Beck, 1296 S., 28 ¤
Ein gängiges (westliches) Vorurteil lautet: Der Sturz vieler Länder der islamischen Welt ins Chaos und in autoritäre Herrschaftssysteme gründet darin, dass zwischen traditionellen Strukturen und dem modernen Staat keine Aufklärung stattfand (wie im Westen). Es gibt nur harte Fronten zwischen Religion und Liberalität; das führt zu Eskalation und Fundamentalismus.
Wer’s differenzierter will, liegt bei Reinhard Schulze goldrichtig. Der Berliner Professor für Islamwissenschaften hat seine ohnehin schon umfassende „Geschichte der Islamischen Welt“überarbeitet und vor allem um ein Kapitel zu den aktuellen Krisen ergänzt. Und dieses zeigt, warum der sogenannte Islamismus nichts anderes ist als ein Krisensymptom des Islam selbst. Der Islam nämlich habe lange wie ein Kitt der Gesellschaften gewirkt, gerade beim Gang in eine eigene Form der modernen Staatlichkeit. Eine „Partnerschaft“zwischen Islam und Gesellschaft nennt das Reinhard Schulze. Diese „islamische Öffentlichkeit“aber sei zerfallen – durch den medialen und wirtschaftlichen Einfall des westlich geprägten Kapitalismus. Mit sozialen Folgen sowie Konkurrenz und Spaltung zwischen den Staaten . . .
Detailreich und komplex wird hier geschildert, wie ein ganz eigener Aufklärungsprozess durch den global agierenden Westen unwiederbringlich gebrochen worden sein dürfte.
C. H. Beck, 767 S., 34,95 ¤