Stadtgeflüster
Bei Streetart Touren lernen die Hauswände der Metropolen sprechen
Touristen ist das klassische Sightseeing nicht mehr genug. Neben Klassikern wie Stadtrundfahrten oder Museumsbesuchen scheinen Aktivitäten mit Einheimischen immer beliebter zu werden. Sie machen das Lebensgefühl einer Stadt erlebbar. Das Angebot reicht dabei von Kochkursen bis hin zu Stadtführungen von Locals. Aber auch Kunst abseits großer Museen und Galerien interessiert Reisende. Vor allem in Berlin gibt es einiges an Streetart zu sehen. Noch in diesem Jahr soll die Hauptstadt sogar ein spezielles Museum dafür bekommen – das „Museum für Urban Contemporary Art“. Leonardo Leckie, der seit sieben Jahren für Sandemans New Europe Streetart-Touren durch Berlin leitet, sagt: „Die Hälfte meiner Touristen nimmt Streetart zunächst als Schmiererei wahr.“Erst im Laufe der Tour entdeckten sie den künstlerischen Aspekt und fingen an, es zu mögen. „Jegliche Art von Veränderung oder Beschädigung an einem Objekt, das dem Künstler nicht gehört, ist Sachbeschädigung“, erklärt Hendrik auf der Heidt, der bei Urban Artists Graffiti-Workshops anbietet. So wird selbst die schönste Streetart ohne Genehmigung zur Straftat. Er bezeichnet Streetart als „jegliche kreative Veränderung des urbanen Raums“. Diese Beschreibung umfasst alle möglichen Formen der Umgestaltung. In Deutschland übersetzt man den Begriff oft mit Straßenkunst. Sogenannte Streetperformer, also Menschen, die gegen ein kleines Trinkgeld Musik spielen, singen oder jonglieren, sind damit jedoch nicht gemeint. Streetart hat sich aus der Graffiti-Kultur entwickelt und ist „expressionistischer, kreativer und individueller“, erklärt auf der Heidt. Neben Graffitis gibt es heute viele weitere Arten von Streetart. Dazu zählen Kreidenmalereien genauso wie Tape Arts und Paper Arts, bei denen vorgefertigte Kunstwerke an öffentliche Wände geklebt werden. Zu dieser vorbereiteten Streetart-Kunst zählen auch die Street Yogi. Das sind kleine Korkmännchen, die kaum sichtbar auf Straßenschildern platziert werden. Erfunden hat die kleinen Figuren ein Berliner Yoga-Lehrer.
Stein auf Stein
Mit dem Fall der Mauer 1989 entstand in Berlin eine ganz neue Graffiti-Bewegung. Seitdem zählt Berlin neben New York und London zu den bekanntesten Streetart-Metropolen der Welt. Am bekanntesten ist dabei wohl die sogenannte „East Side Gallery“. 118 Künstler aus fast zwei Dutzend Ländern gestalteten 1990 das längste erhaltene Stück der Berliner Mauer. Ein weiteres Beispiel ist der von Victor Ash geschaffene Astronaut in der Mariannenstraße im Stadtteil Kreuzberg. Er symbolisiert den Wettlauf im All zwischen den USA und Russland während des Kalten Kriegs. Als Sinnbild für den Faschismus gilt der pinke Riese „Leviathan“vom italienischen Künstler BLU hinter der Oberbaumbrücke. Streetart vermittelt oftmals einen Eindruck vom Lebensgefühl einer Stadt. Auf die Frage, warum sie an einer StreetartTour teilnimmt, antwortet eine Touristin: „Weil wir den Lifestyle der Stadt erkunden wollen“. Am beliebtesten sind Tourguide Leckie zufolge jene Orte in Berlin, an denen Streetart vorhanden ist und der dazugehörige Lifestyle gelebt wird. Als Beispiele nennt er das Friedrichshainer RAW Gelände mit seinen zahlreichen Clubs, Bars und Künstlern oder das mittlerweile geschlossene Kunsthaus Tacheles.
Authentisches Erlebnis
An diesen Orten treffen Streeart, Musik und ein hohes Bewusstsein für eine nachhaltige Lebensweise zusammen. Leckie sieht „Streetart als Ergänzung des klassischen Sightseeings“. Viele seiner bis zu 40 internationalen Touristen am Tag machen vorher die klassischen Sightseeingtouren mit. Erst an zweiter und dritter Stelle steht eine StreetartTour. Das bestätigt ein USAmerikaner, der mit seiner Frau an der Tour teilnimmt, „weil wir die anderen Touren schon gemacht haben“. In den letzten sieben Jahren hat Leckie gemerkt, dass es immer schwieriger wird, Streetart in Berlin zu entdecken. „Die Stadt entwickelt sich schnell. Es wird viel saniert, die Preise steigen und der sozioökonomische Strukturwandel hält an“, sagt er. Weniger Streetart entsteht und alte Werke gehen verloren. Zumindest die Kunstwerke der East Side Gallery werden Berlin jedoch erhalten bleiben. Sie werden in regelmäßigen Abständen saniert.