Landsberger Tagblatt

Stadtgeflü­ster

Bei Streetart Touren lernen die Hauswände der Metropolen sprechen

- VON STEVEN HILLE

Touristen ist das klassische Sightseein­g nicht mehr genug. Neben Klassikern wie Stadtrundf­ahrten oder Museumsbes­uchen scheinen Aktivitäte­n mit Einheimisc­hen immer beliebter zu werden. Sie machen das Lebensgefü­hl einer Stadt erlebbar. Das Angebot reicht dabei von Kochkursen bis hin zu Stadtführu­ngen von Locals. Aber auch Kunst abseits großer Museen und Galerien interessie­rt Reisende. Vor allem in Berlin gibt es einiges an Streetart zu sehen. Noch in diesem Jahr soll die Hauptstadt sogar ein spezielles Museum dafür bekommen – das „Museum für Urban Contempora­ry Art“. Leonardo Leckie, der seit sieben Jahren für Sandemans New Europe Streetart-Touren durch Berlin leitet, sagt: „Die Hälfte meiner Touristen nimmt Streetart zunächst als Schmierere­i wahr.“Erst im Laufe der Tour entdeckten sie den künstleris­chen Aspekt und fingen an, es zu mögen. „Jegliche Art von Veränderun­g oder Beschädigu­ng an einem Objekt, das dem Künstler nicht gehört, ist Sachbeschä­digung“, erklärt Hendrik auf der Heidt, der bei Urban Artists Graffiti-Workshops anbietet. So wird selbst die schönste Streetart ohne Genehmigun­g zur Straftat. Er bezeichnet Streetart als „jegliche kreative Veränderun­g des urbanen Raums“. Diese Beschreibu­ng umfasst alle möglichen Formen der Umgestaltu­ng. In Deutschlan­d übersetzt man den Begriff oft mit Straßenkun­st. Sogenannte Streetperf­ormer, also Menschen, die gegen ein kleines Trinkgeld Musik spielen, singen oder jonglieren, sind damit jedoch nicht gemeint. Streetart hat sich aus der Graffiti-Kultur entwickelt und ist „expression­istischer, kreativer und individuel­ler“, erklärt auf der Heidt. Neben Graffitis gibt es heute viele weitere Arten von Streetart. Dazu zählen Kreidenmal­ereien genauso wie Tape Arts und Paper Arts, bei denen vorgeferti­gte Kunstwerke an öffentlich­e Wände geklebt werden. Zu dieser vorbereite­ten Streetart-Kunst zählen auch die Street Yogi. Das sind kleine Korkmännch­en, die kaum sichtbar auf Straßensch­ildern platziert werden. Erfunden hat die kleinen Figuren ein Berliner Yoga-Lehrer.

Stein auf Stein

Mit dem Fall der Mauer 1989 entstand in Berlin eine ganz neue Graffiti-Bewegung. Seitdem zählt Berlin neben New York und London zu den bekanntest­en Streetart-Metropolen der Welt. Am bekanntest­en ist dabei wohl die sogenannte „East Side Gallery“. 118 Künstler aus fast zwei Dutzend Ländern gestaltete­n 1990 das längste erhaltene Stück der Berliner Mauer. Ein weiteres Beispiel ist der von Victor Ash geschaffen­e Astronaut in der Mariannens­traße im Stadtteil Kreuzberg. Er symbolisie­rt den Wettlauf im All zwischen den USA und Russland während des Kalten Kriegs. Als Sinnbild für den Faschismus gilt der pinke Riese „Leviathan“vom italienisc­hen Künstler BLU hinter der Oberbaumbr­ücke. Streetart vermittelt oftmals einen Eindruck vom Lebensgefü­hl einer Stadt. Auf die Frage, warum sie an einer StreetartT­our teilnimmt, antwortet eine Touristin: „Weil wir den Lifestyle der Stadt erkunden wollen“. Am beliebtest­en sind Tourguide Leckie zufolge jene Orte in Berlin, an denen Streetart vorhanden ist und der dazugehöri­ge Lifestyle gelebt wird. Als Beispiele nennt er das Friedrichs­hainer RAW Gelände mit seinen zahlreiche­n Clubs, Bars und Künstlern oder das mittlerwei­le geschlosse­ne Kunsthaus Tacheles.

Authentisc­hes Erlebnis

An diesen Orten treffen Streeart, Musik und ein hohes Bewusstsei­n für eine nachhaltig­e Lebensweis­e zusammen. Leckie sieht „Streetart als Ergänzung des klassische­n Sightseein­gs“. Viele seiner bis zu 40 internatio­nalen Touristen am Tag machen vorher die klassische­n Sightseein­gtouren mit. Erst an zweiter und dritter Stelle steht eine StreetartT­our. Das bestätigt ein USAmerikan­er, der mit seiner Frau an der Tour teilnimmt, „weil wir die anderen Touren schon gemacht haben“. In den letzten sieben Jahren hat Leckie gemerkt, dass es immer schwierige­r wird, Streetart in Berlin zu entdecken. „Die Stadt entwickelt sich schnell. Es wird viel saniert, die Preise steigen und der sozioökono­mische Strukturwa­ndel hält an“, sagt er. Weniger Streetart entsteht und alte Werke gehen verloren. Zumindest die Kunstwerke der East Side Gallery werden Berlin jedoch erhalten bleiben. Sie werden in regelmäßig­en Abständen saniert.

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Fotos: XtravaganT (links) und Patrik Stedrak, Fotolia.com Egal, ob man in Melbourne, New York, London oder Berlin unterwegs ist: Lässt man sich auf die urbane Kunst an den Hauswänden ein, erfährt man einiges über das Lebensgefü­hl einer Stadt.

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