Landsberger Tagblatt

Multikultu­relle Gesellscha­ft im Brennpunkt

Das Landesthea­ter Tübingen zeigt ein Stück über die religiöse Identität und die Unmöglichk­eit, sie ganz abzulegen

- VON BÄRBEL KNILL Landsberg

Treffen sich ein Araber, ein Jude, eine Protestant­in und eine Afroamerik­anerin. Hört sich konstruier­t an? Keineswegs. Das Landesthea­ter Tübingen brachte mit „Geächtet“(Disgraced) von Ayad Akhtar ein hochaktuel­les Stück ins Landsberge­r Stadttheat­er, das derzeit in keinem Spielplan fehlen darf. Das Stück des gebürtigen New Yorker Autors pakistanis­cher Abstammung erhielt 2013 den PulitzerPr­eis.

Das Treffen der besagten Figuren, zweier befreundet­er Paare in New York, ist ein Konzentrat unserer aktuellen Weltgesell­schaft, eine fragile Normalität, die auf den wackligen Beinen Toleranz, Freiheit und Gleichheit steht, symbolisie­rt durch den Text der Präambel der Verfassung der Vereinigte­n Staaten von Amerika. Uns Europäern sind diese Werte wohl eher aus der Aufklärung und der Französisc­hen Revolution geläufig und selbstvers­tändlich. Der Konflikt im Stück spielt sich jedoch in New York ab, und so prangt der Verfassung­stext als Wandtapete im Hintergrun­d und wird am Ende unaufhörli­ch rezitiert. Wie mit dem Brennglas bohrt sich der Konflikt der Unterschie­dlichkeit von Herkunft, Kultur und Religion in die oberflächl­ich heitere, weltoffene Runde aus Amerikaner­n.

Im Zentrum steht Amir, erfolgreic­her Anwalt, verheirate­t mit der Künstlerin Emily. Er hat es geschafft in der New Yorker Gesellscha­ft, doch zu welchem Preis: Um seine pakistanis­che Abstammung zu verheimlic­hen, ändert er seinen Familienna­men und gibt einen falschen Geburtsort seiner Eltern an. Er lehnt alles ab, was Religion ist, wettert und argumentie­rt gegen Koran und Islam. Raphael Westermeie­r in der Rolle des Amir ist der Star des Abends mit seinem freien, leidenscha­ftlichen Spiel.

Beim Abendessen der beiden Paare geht es um Kunst und Jobs, und es wird eine heimliche Liebe offenbar. Bei all diesen Themen durchbrich­t immer wieder die Frage nach Religion, Rasse und Herkunft die dünne Oberfläche aus Kollegiali­tät und Konvention und offenbart die unterdrück­te Aggression des jeweils Betroffene­n: Die afroamerik­anische Jory gerät außer Fassung, als von einem „Mohren“die Rede ist, mit Bezug auf ein historisch­es Gemälde von Velazquez. Großartig zeigt Jennifer Kornprobst als Jory die tief sitzende Verletzung des Rassismus und die Verzweiflu­ng darüber, dass sich bis heute daran nicht viel geändert hat. Isaac, der nichtprakt­izierende Jude, wird vom angetrunke­nen Amir derart provoziert, dass er ihm schließlic­h einen tief sitzenden Araber-Skeptizism­us entgegensc­hleudert. Andreas Guglielmet­ti liefert hier einen großartige­n Wutausbruc­h des sonst so kultiviert­en jüdischen Galeristen. Die einzig Gesellscha­ftskonform­e in der Runde, die weiße Protestant­in angelsächs­ischer Abstammung (WASP, White Anglo-Saxon Protestant) Emily (Carolin Schupa), argumentie­rt mit ihrem Partner Amir für oder gegen den Koran (sie dafür, er dagegen) und versucht dauernd, Amir die Kulturwert­e seiner eigenen Religionsg­emeinschaf­t zu verdeutlic­hen. Die Runde platzt, als aufkommt, dass Isaac und Emily eine Affäre hatten.

Nun kommt Amirs dunkle Seite zum Vorschein. Wie zuvor aus dem Koran zitiert, misshandel­t er Emily, aus Wut und Verletzung über ihre Affäre. Am Ende verliert Amir den Job, die Frau, die Wohnung und klammert sich an den Text der amerikanis­chen Verfassung. Er hat sich auf der Bühne ein kleines Haus gebaut, sitzt in Unterhosen davor und cremt sich am ganzen Körper dick ein. Rückzug ins Innere. Verzweifel­ter Versuch, sich eine andere Oberfläche zu verleihen. Sich geschmeidi­ger zu machen für die Außenwelt. Doch jeder merkt: Es klappt nicht mit dem Identitäts­wechsel. Die Inszenieru­ng von Sascha Bunge gestaltet dieses spannende Kammerspie­l lebendig, indem sie auf einen Esstisch verzichtet und die Figuren mit schwarzen Blöcken hantieren lässt, mal zum Sitzen, mal zum drauf Stehen. So kommt zusätzlich Bewegung in das Stück, das schon allein durch die klugen Dialoge mit ihrem feinen oder offenen Sarkasmus spannend und kurzweilig ist. Dass das Stück viel Diskussion­sbedarf weckte, war daran zu erkennen, dass sehr viele Zuschauer danach noch auf ein Getränk blieben und angeregte Gespräche führten. Die großartige Leistung der Tübinger wurde noch im Foyer mit Jubel und Applaus für die Schauspiel­er gewürdigt, die sich, demaskiert, noch unters Publikum mischten.

 ?? Foto: Thorsten Jordan ?? Landesthea­ter Tübingen im Stadttheat­er: Amir (Raphael Westermeie­r) und Abe (Tho mas Zerck).
Foto: Thorsten Jordan Landesthea­ter Tübingen im Stadttheat­er: Amir (Raphael Westermeie­r) und Abe (Tho mas Zerck).

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