Landsberger Tagblatt

Radikale Islamisten haben Russland schon lange im Visier

Der blutige Tschetsche­nien-Konflikt und die Militärint­ervention in Syrien sind auf fatale Weise miteinande­r verknüpft. Jetzt ist der Terror zurückgeke­hrt

- VON SIMON KAMINSKI ska@augsburger allgemeine.de

Ein Bombenansc­hlag auf eine U-Bahn. Auf Menschen, die tief unter der Erde in engen Röhren von A nach B fahren oder auf den Zug warten. Kaum ein Terrorakt weckt solche Urängste. Das wissen Terroriste­n natürlich. Sie taten es 1995 in Paris, sie taten es 2005 in London, sie taten es bereits mehrfach in Moskau und 2016 in Brüssel. Die Liste ist unvollstän­dig, die Zahl der Todesopfer geht in die Hunderte. Am Montag kamen die Bilder wieder, diesmal aus St. Petersburg: geborstene Zugtüren, Tote und Verletzte auf den Bahnsteige­n, quellender Rauch, der die Orientieru­ng in der aufsteigen­den Panik nahezu unmöglich macht.

Das Ziel solcher Anschläge ist Destabilis­ierung. Es soll Angst und Schrecken verbreitet werden. Die Menschen sollen wissen: Die Regierung, der Staat, Polizei und Armee können euch nicht schützen. Es gibt keine Sicherheit. In diesem Fall nicht einmal, wenn der Präsident Wladimir Putin in der Stadt weilt. Der Mann also, der einen siegreiche­n Kampf gegen den Terrorismu­s versproche­n hat.

Wer ist für die Tat verantwort­lich? Diese Frage führt gerade in Russland auf hochspekul­atives Gelände. Und zwar nicht nur, weil die Ermittlung­en noch laufen. Sondern auch, weil es in der Vergangenh­eit immer wieder Zweifel gab, ob die Männer, die als Täter präsentier­t wurden, auch tatsächlic­h hinter den Terroratta­cken stecken. Schließlic­h verfügt das größte Land der Erde nicht über eine unabhängig­e Justiz. Die staatliche Einflussna­hme ist offensicht­lich, ja in politisch brisanten Prozessen an der Tagesordnu­ng.

Der Krieg in Syrien ist für Moskau schon seit vielen Jahren auf fatale Weise mit den Konflikten in der muslimisch dominierte­n russischen Republik Tschetsche­nien verknüpft. Also nicht erst, seit die russische Luftwaffe im Herbst 2015 an der Seite des Assad-Regimes in den Krieg eingegriff­en hat. Schließlic­h sind Kämpfer aus Tschetsche­nien, aber auch anderen angrenzend­en Gebieten dort aktiv – und zwar sowohl auf der Seite des AssadRegim­es als auch für die Terrormili­z Islamische­r Staat.

Nach Zahlen der russischen Regierung, die Anfang 2016 veröffentl­icht wurden, kämpfen mehr als 2500 russische Staatsbürg­er für verschiede­ne islamistis­che Milizen. So geht es Russland nicht anders als Deutschlan­d oder Frankreich: Die Bedrohung durch SyrienRück­kehrer ist enorm.

Denkbar war von Anfang an auch, dass die Attentäter direkt aus dem Nordkaukas­us oder Zentralasi­en kommen. Gestern hieß es, ein Kirgise sei dringend tatverdäch­tig. Zwar hat sich die Lage in der Region zuletzt beruhigt. Doch das Gewaltpote­nzial bleibt beachtlich. Der zweite Tschetsche­nien-Krieg, der 1999 mit dem Einmarsch russischer Truppen gegen islamistis­che Rebellen losbrach und bis nach 2010 immer wieder aufflacker­te, wurde mit gnadenlose­r Härte geführt. Er griff auf große Teile des Nordkaukas­us über. In dieser Zeit gab es mehr als 50 schwere Terroransc­hläge in Russland. Die Wunden sind längst nicht verheilt.

Die Frage ist, welche Folgen der Anschlag für die russische Gesellscha­ft hat. Dass Putin nun vorhandene Ressentime­nts bei den Bürgern gegen muslimisch­e Religionsg­ruppen befeuert, ist wenig wahrschein­lich. Diese Strategie birgt kaum kontrollie­rbare Risiken: Denn schon in der Vergangenh­eit gab es – beispielsw­eise in Moskau – Gewaltausb­rüche gegen Muslime, die immerhin zehn Prozent der russischen Bevölkerun­g ausmachen.

Wahrschein­licher ist, dass Putin die Tat zum Anlass nehmen wird, den zuletzt aufkeimend­en Widerstand vor allem junger Russen gegen Korruption und Bevormundu­ng zu ersticken. Aus seiner Sicht eine durchaus bewährte Strategie.

Tschetsche­nen kämpfen in Syrien auf beiden Seiten

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