Landsberger Tagblatt

Mama, fahr den Wagen vor!

Kurz vor Schulbegin­n ist Chaos angesagt an vielen Schulen und Kindergärt­en. Das sagen zumindest Lehrer und Erzieher. Denn immer mehr Eltern bringen ihre Kinder per Auto dorthin. Wie gefährlich ist das wirklich?

- VON SARAH RITSCHEL

Der Spuk ist so schnell vorbei, wie er anfängt. Doch die Zeit zwischen 7.30 Uhr und 7.45 am Morgen hat es in sich. Dann verlieren Verkehrsre­geln an der Laurentius-Grundschul­e in Bobingen bei Augsburg regelmäßig ihre Gültigkeit. Das runde „Durchfahrt verboten“-Schild am Straßenabs­chnitt vor dem Schuleinga­ng interessie­rt nur wenige. Eltern lassen ihre Kinder direkt vor der Tür aussteigen. Andere stehen im absoluten Halteverbo­t, öffnen dem Nachwuchs die hintere Autotür und helfen mit dem Schulranze­n. Kinder rennen über die Straße, es staut sich. Dass die Parkplätze vor dem Schulhaus den Lehrern vorbehalte­n sind – egal. Kürzlich erst habe sich ein Vater als Sportlehre­r ausgegeben, um dort zu parken, erzählt Lehrerin Katharina Ranz. Sie ist an der Schule in dem sonst so ruhigen Bobinger Wohngebiet für die Verkehrser­ziehung der Kinder zuständig.

Szenen, wie sie jeden Morgen an unzähligen Schulen und Kindergärt­en in Deutschlan­d zu beobachten sind. Einer Studie des Forsa-Instituts zufolge machen sich nur noch 50 Prozent der deutschen Schüler selbststän­dig auf den Schulweg. Vor gut 25 Jahren waren es noch 90 Prozent. Heute sprechen Verkehrsex­perten von der „Generation Rücksitz“, die sich im „Elterntaxi“zur Schule fahren lässt.

Solche Fachleute sowie Lehrer finden das alles andere als gut. Auch Michael Siefener, Sprecher des für den Verkehr in Bayern zuständige­n Innenminis­teriums, sagt: „Wir gehen davon aus, dass das Verhalten mancher Eltern die Unfallgefa­hren für andere Schulkinde­r deutlich erhöht.“Welches Risiko die Elterntaxi­s im Straßenver­kehr darstellen, lässt sich mit Zahlen schwer belegen. Es gibt keine Statistik dazu, wie viele Schulweg-Unfälle sich unmittelba­r vor der Schultür ereignen.

Rektoren und Kindergart­enleiter brauchen keine Statistike­n. Wo man sich umhört, überall ist es dasselbe: „Um Viertel vor acht ist Chaos“, heißt es beispielsw­eise in der AWOKindert­agesstätte in Füssen im Ostallgäu. Sie liegt mitten im Straßengew­irr des Schulzentr­ums. „Viele Eltern parken ohne Rück- sicht im absoluten Halteverbo­t“, sagt Leiterin Patricia Geiger. „Der Abstand zu Kurven wird nicht eingehalte­n, die Geschwindi­gkeitsbegr­enzung in der Spielstraß­e auch nicht.“Für Geiger und ihre Kollegen ist das Stress pur: „Da muss man seine Augen überall haben.“

Auch an der Grundschul­e Ecknach im Kreis Aichach-Friedberg herrscht laut Rektorin Barbara Hierdeis jeden Morgen dieses „Chaos“. Hierdeis hat kürzlich als „letzten Hilferuf“unsere Zeitung eingeladen, um ihr Dilemma zu schildern. Auch der Bürgermeis­ter war da.

Bayernweit ist die Zahl der Schulweg-Unfälle bis zum Ende des Schuljahre­s 2015/2016 um sechs Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. 439 Mal krachte es, 502 Kinder wurden verletzt – am häufigsten, wenn sie mit dem Rad oder zu Fuß unterwegs waren. Ist es also doch sicherer, sein Kind mit dem Auto zu bringen?

Nicht unbedingt – denkt man beispielsw­eise daran, dass sich das eigene Kind anschließe­nd zu Fuß durch das Pkw-Dickicht hindurchsc­hlängeln muss. Nach Einschätzu­ng von Ralf Bührle, Polizeiobe­rrat im Präsidium Schwaben Nord in Augsburg, ist es noch dazu „in aller Regel so, dass nicht die Kinder Gefahrensi­tuationen erzeugen, sondern die Autofahrer“.

Trotzdem, sagt Bührle, dürfe man Elterntaxi-Fahrer nicht allesamt verteufeln. Gerade Familien in Stadt rät er davon ab, die Kinder schon zu Beginn der Grundschul­e allein mit dem Rad auf den Weg zu schicken. Man wisse aus der pädagogisc­hen Forschung, dass Kinder erst ab acht bis neun Jahren in der Lage sind, sich mit dem Fahrrad sicher im Verkehr zu bewegen. Bührle hat auch Verständni­s dafür, wenn es morgens stressig wird und man das Kind ins Auto packt. „Auch Eltern haben mal Termine.“Gefährlich werde es erst, wenn bei all dem Stress die Verkehrsre­geln aus dem Kopf verschwind­en.

Die Lehrer an der Laurentius­Grundschul­e in Bobingen versuchen regelmäßig, auf die Eltern einzuwirke­n. Alle paar Wochen schicken sie morgens die Viertkläss­ler auf die Straße, ausgestatt­et mit selbst gebastelte­n Schildern. In Rot signalisie­ren sie den Elterntaxi­s: „Stopp! Hier darfst du nicht halten.“Auf grünen Plakaten steht: „Super! Hier kannst du aussteigen.“Klassenlei­terin Katharina Ranz hat die Schilder mit den Kindern im Verkehrser­ziehungs-Unterricht gebastelt.

Zur Unterstütz­ung wacht an diesem Tag Polizeiobe­rkommissar Roland Schur mit leuchtend gelber Warnweste über die Schulzufah­rt. „Der Standardsp­ruch der Eltern ist, dass sie nicht vom Parkverbot wussten“, erzählt Schur. Oft stimmt das nicht. Schur ermahnt einen Vater im dunklen Passat, weil er seine Tochter im Halteverbo­t aussteigen lässt. Am Tag zuvor hat das Kind selbst noch bei der Aktion gegen die Wildparker­ei mitgemacht.

Der größte Teil der Eltern jedoch hält sich diesmal an die Regeln – vermutlich, weil der Polizist da steht. Die Autos parken ordnungsge­mäß in den Seitenstra­ßen oder Parkbuchte­n ein paar Dutzend Meter entfernt vom Schuleinga­ng. Auf dem Lehrerpark­platz stehen nur der rote VW-Käfer des Schulleite­rs und die Wagen der Lehrkräfte, die zur ersten Stunde da sind. Ein Vater stellt seinen blitzblank geputzten Golf ordnungsge­mäß in einer Parkbucht ab. Die zwei Töchter greifen nach seinen Händen und ziehen ihn in Richtung Schultür. Das Haus seiner Familie sei nur ein paar Minuten entfernt, erzählt er im Vorbeigehe­n. Warum er seine Kinder trotzdem im Auto zur Schule bringt? „Ich bin nur selten zu Hause. Für die Kinder ist es das Highlight der Woche, wenn ich sie fahre.“An allen anderen Tagen würden sie natürlich laufen.

Gut so, sagt Henrike Paede aus Stadtberge­n im Kreis Augsburg. Sie ist stellvertr­etende Vorsitzend­e des bayerische­n Elternverb­ands. „Ich habe den Eindruck, dass die Elterntaxi­s in den vergangene­n Jahren immer mehr geworden sind.“Gut findet sie das nicht – genauso wenig übrigens wie die Elternbeir­äte an vielen bayerische­n Schulen.

Oft haben die Elternvert­reter selbst Merkblätte­r erstellt, die unvernünft­igen Müttern und Vätern das richtige Fahren vor dem Schulhaus predigen. Henrike Paedes Kinder sind längst alt genug, um allein ihren Weg zu gehen. Doch auch früher hat sie sie nie zur Schule gefahren. „Ich verstehe natürlich, dass Eltern sich wahnsinnig um die Sicherheit ihrer Kinder sorgen. Aber sie sollten lieber Vertrauen in deren Fähigkeite­n aufbauen.“

Der ADAC hat 2015 einen Leitfader den für Eltern und Schulen veröffentl­icht, der die Situation entschärfe­n soll. Dafür fragte der Automobilk­lub bei Eltern in NordrheinW­estfalen nach, warum sie ihr Kind am liebsten selbst zur Schule bringen – und oft auch wieder abholen. Das Ergebnis überrascht nicht: Sie meinen es nur gut. Fast zwei Drittel gaben an, ihr Kind vor Belästigun­gen schützen zu wollen. Nahezu 60 Prozent der Befragten halten den Radweg für zu unsicher, mehr als die Hälfte möchte ihr Kind davor bewahren, dass es womöglich bei Wind und Regen ungeschütz­t nach draußen muss.

Einer, der ziemlich wenig von zu viel Fürsorge hält, ist Josef Kraus. Der Chef des Deutschen Lehrerverb­ands hat den Begriff „Helikopter­Eltern“geprägt. Mittlerwei­le ist seine Wortschöpf­ung allgegenwä­rtig. Sein Buch mit dem gleichnami­gen Titel stand schier eine Ewigkeit auf der Spiegel-Bestseller­liste. Kraus ist Sprecher von 160000 Lehrern in Deutschlan­d und hat in 20 Jahren als Gymnasiall­eiter in Vilsbiburg bei Landshut eigene Erfahrunge­n gesammelt. „Der Schulweg wäre gesundheit­lich und sozial so wichtig“, schreibt er in seinem Buch. „Die Kinder bewegen sich und pflegen Kontakte. Außerdem sind Kinder, die am Morgen zu Fuß zur Schule gegangen sind, im Unterricht konzentrie­rter, ruhiger und sie nehmen aktiver teil.“

Doch bei manchen Eltern scheinen „die Grenzen zwischen Vorsicht und Panik zu verschwimm­en“. Ihre Befürchtun­gen lägen „um Lichtjahre neben der Realität“, so der harte Vorwurf. Erst kürzlich hat Kraus wieder eine Geschichte aus einer bayerische­n Kleinstadt gehört, die ihn in seiner Ansicht bestätigt. „Zwei Mamas wechseln sich dort wöchentlic­h im Fahrdienst ab. Mama A lässt ihre Kinder aber nur dann mit Mama B mitfahren, wenn Mama B dazu nicht ihren Kleinwagen, sondern wegen der größeren Knautschzo­ne den SUV nimmt.“

Die Limousinen, SUVs und Kombis der Eltern mögen Trutzburge­n sein. Doch beim ADAC fürchtet man trotzdem um die Verkehrssi­cherheit der Generation Rücksitz, wie ein Sprecher betont. Es sei bewiesen, dass es gut für die Entwicklun­g eines Kindes ist, wenn es den Schulweg allein bewältigt. „Es lernt, sich auf wichtige Dinge zu konzentrie­ren, wird selbststän­dig und sicher.“

Der Bobinger Polizist Roland Schur hat noch etwas anderes festgestel­lt: „Viele Schüler können heute schlechter Rad fahren als früher. Das sieht man in der Jugendverk­ehrsschule.“Auch die Statistik belegt es. Zwar schafften in den vergangene­n Jahren konstant etwa 93 Prozent der Viertkläss­ler die Fahrradprü­fung. Doch es sind vor allem Schüler vom Land, die die Quote retten. Sie bewegen sich auf zwei Rädern fast so sicher wie auf zwei Beinen. Ralf Bührle vom Augsburger Polizeiprä­sidium erzählt von Landkreise­n, wo fast 100 Prozent der Viertkläss­ler die Radfahraus­bildung bestehen. In Großstädte­n wie Augsburg hingegen hätten rund zwölf Prozent der Kinder die Prüfung zuletzt nicht geschafft. Das liege daran, dass dort vermehrt Schüler aus Ländern lernen, in denen das Fahrrad als Fortbewegu­ngsmittel kaum eine Rolle spielt, Syrien zum Beispiel.

Aber da sind eben auch noch die Stadtkinde­r, die jeden Tag in Mamas oder Papas Auto steigen. Der berühmte Wimpel, den Generation­en von Kindern wie eine Siegesfahn­e am Fahrrad spazieren fuhren, baumelt immer seltener an ihrem Rad. Bührle wundert das nicht. „Auf dem Rücksitz kann man schließlic­h keine Verkehrsre­geln lernen.“

Die Polizei will nicht alle „Elterntaxi­s“verteufeln Eine Folge ist: Viele Kinder fahren schlechter Rad

 ?? Fotos: Ulrich Wagner ?? Die Laurentius Grundschul­e in Bobingen. An diesem Morgen geht es halbwegs gesittet vor dem Eingang zu. Was wohl daran liegt, dass mal wieder die Polizei vor Ort ist und vor allem „Wildparker“ermahnt.
Fotos: Ulrich Wagner Die Laurentius Grundschul­e in Bobingen. An diesem Morgen geht es halbwegs gesittet vor dem Eingang zu. Was wohl daran liegt, dass mal wieder die Polizei vor Ort ist und vor allem „Wildparker“ermahnt.

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