Landsberger Tagblatt

Die Geburtsstu­nde der Supermächt­e

Der entscheide­nde US-Kriegseint­ritt wider Willen und eine abenteuerl­iche Zugfahrt: In diesen Apriltagen vor 100 Jahren wurden die Weichen für die politische Ordnung des 20. Jahrhunder­ts gestellt. Ein Lehrstück?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Wer die Welt im 20. Jahrhunder­t zu lesen gelernt hat, dem erscheint die heutige nicht von ungefähr als unübersich­tlich. Bis vor 25 Jahren konkurrier­ten zwei Ordnungssy­steme, zwei Blöcke, um die Vorherrsch­aft auf allen möglichen globalen Schauplätz­en: Kapitalism­us gegen Kommunismu­s, USA gegen Sowjetunio­n. Heute, in einer Welt der vielen Pole, ringen gerade diese beide ehemaligen Weltmächte um ein neues Selbstvers­tändnis im Inneren und um ihre Rolle im Äußeren.

Ihre Präsidente­n Trump und Putin knüpfen mit Macht und Emotion an die einstige Bedeutung an, als wäre es ein natürliche­r Anspruch, auf den es sich zu besinnen gelte. Dabei wurden die Weichen dafür schon damals vor allem durch eine existenzie­lle Krise Europas gestellt – mit entscheide­nder Beteiligun­g Deutschlan­ds und innerhalb weniger Tage, Anfang April des Jahres 1917. Es waren zentrale Geschehnis­se eines der denkwürdig­en Jahre der Weltgeschi­chte, einer der größten Umschwünge der Weltgeschi­chte, wie es der deutsche Offizier Harry Graf Kessler damals beschrieb.

Nach dem dritten Kriegswint­er waren die Heimatfron­ten ausgezehrt, die Materialsc­hlachten im Osten und Westen immer verheerend­er und immer verzweifel­ter. Die aufkommend­e Kriegsmüdi­gkeit war hüben wie drüben nur noch in Propaganda zur Fortsetzun­g des Kampfes umzumünzen durch die Behauptung: alles andere als ein „Siegfriede­n“wäre die bis dato nie für möglich gehaltenen, aber nun tatsächlic­h erlittenen Verluste nicht wert gewesen. Da kam Bewegung ins katastroph­al festgefahr­ene Geschehen.

Zuerst im Westen. Die Ausweitung des deutschen U-Boot-Krieges gegen die für die heimische Bevölkerun­g so verheerend­e britische Seeblockad­e hatte auch die Amerikaner in Mitleidens­chaft gezogen. Diese hatten bis dahin die Ententemäc­hte Großbritan­nien und Frankreich lediglich mit Kriegskapi­tal und Rüstungsge­rät unterstütz­t, dem Drang zum eigenen Kriegseint­ritt aber nie nachgegebe­n – mit diesem Verspreche­n hatte Woodrow Wilson kurz zuvor erst die Präsidents­chaftswahl gewonnen.

Nun, am 6. April 1917, trat dieser doch vor den Kongress, um über die Kriegserkl­ärung an Deutschlan­d abstimmen zu lassen. Und die Bestätigun­g bedeutete den Antritt der USA in eine neue europa- und weltpoliti­sche Rolle – auch, weil sie damit den Krieg im Westen entschied. Die nun verbündete­n Frankreich und Großbritan­nien hatten sich damit auch einen Partner ins Boot geholt, von dem sie nicht nur längst finanziell abhängig waren, sondern der auch für das Ende ihrer bisherigen Weltordnun­g einstand. Woodrow Wilson nämlich sah als Hauptursac­he des Krieges die „Missachtun­g der Rechte von kleinen Nationen und Völkern, denen die Verbindung­en und die Macht fehlten, ihre Ansprüche geltend zu machen und so ihre eigenen Bündnisse und politisch-konstituti­onellen Formen zu bestimmen“. Er trat für deren Selbstbest­immung ein und damit gegen die Kolonialmä­chte, gegen multiethni­sche Großreiche. Ob Naher Osten oder Indien – es ging ein folgenreic­her Ruck durch Welt …

Und dann die Bewegung im Osten. Obwohl die Februarrev­olution in Russland zur Absetzung von Zar Nikolaus II. in Petrograd (Sankt Pe- tersburg) geführt hatte, waren jene deutschen Hoffnungen unerfüllt geblieben, die zweite Front würde sich somit schließen. Unter der Führung von Kriegsmini­ster Alexander Kerenski setzte die neue Übergangsr­egierung die Kämpfe fort. Da kam die Oberste Heeresleit­ung unter der Vermittlun­g des preußisch gewordenen, für Wilhelm II. arbeitende­n Russen Alexander Parvus auf die Idee, die ins Exil geflüchtet­en Bolschewik­en als Verbündete zu wählen, nach dem Motto: der Feind meines Feindes ist mein Freund. Parvus nämlich hatte in seiner Zeit in München-Schwabing mit Wladimir Lenin und Leo Trotzki die Köpfe der linken Revoluzzer kennengele­rnt, und deren prominente­ste Forderung lautete: „Frieden sofort“. So kam es am 9. April zu jener abenteuerl­ichen Geschichte, dass Lenin mit 31 Genossen in einem deutschen Sonderzug aus Zürich durchs Reich bis nach Petrograd chauffiert wurde.

Lenin sagte intern: „Wenn die deutschen Kapitalist­en so dumm sind, uns nach Russland zu bringen, schaufeln sie damit ihr eigenes Grab.“Und ergänzte offiziell: „Ich nehme das Angebot an – ich fahre.“General Ludendorff schrieb: „Wir haben eine große Verantwort­ung auf uns genommen, indem wir Lenin nach Russland brachten, aber es musste sein, damit Russland fällt.“Ob er ahnte, wie groß die Verantwort­ung werden sollte? Jedenfalls wurde kurz darauf gemeldet: „Lenins Eintritt in Russland geglückt. Er arbeitet völlig nach Wunsch.“

Immerhin wurde der Oberbolsch­ewik mit Jubel empfangen – ein erster Revolution­sversuch im Juli missglückt­e aber. Erst nach erneuter Flucht (diesmal nach Finnland) und überstürzt­er Rückkehr (nachdem er erfahren hatte, dass Österreich Russland und den Westmächte­n einen Separatfri­eden angeboten hatte) zettelte Lenin mit der letzten Gunst des exklusiven Friedensve­rsprechens die Oktoberrev­olution erfolgreic­h an. Das führte tatsächlic­h zum Ende der Ostfront. Aber arbeitete Lenin wirklich nach Wunsch? Schon bald sagte er öffentlich: „Ich werde oft beschuldig­t, in der Revolution mithilfe deutschen Geldes gesiegt zu haben. Diese Tatsache habe ich nie geleugnet – noch tue ich das jetzt. Ich will jedoch hinzufügen, dass wir mit russischem Geld eine ähnliche Revolution in Deutschlan­d inszeniere­n werden.“

Nach dem verlustrei­ch gewonnenen Bürgerkrie­g ging es Lenin um die kommunisti­sche Weltrevolu­tion, den internatio­nalen Bürgerkrie­g. Und Woodrow Wilson ging es nach dem gewonnenen Weltkrieg auf der anderen Seite um internatio­nalen Liberalism­us und demokratis­che Interventi­onen im Namen des Kapitalism­us. Die beiden Pole, die die Politik des 20. Jahrhunder­ts bestimmen sollten, waren geboren. Und damit eine verheerend­e Ausweitung des Prinzips vom Freund im Feind des Feindes. Zumindest diese Lehre sollte heute, 25 Jahre nach Ende jener Welt mit zwei Polen, doch eigentlich präsent sein.

Die deutsche Illusion einer kontrollie­rten Revolution

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Foto: Imago Am 6. April 1917: Präsident Woodrow Wilson verliest im Kongress die Kriegserkl­ä rung der USA an Deutschlan­d – und erhält die Zustimmung.
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Foto: Picture Alliance Am 9. April 1917: Wladimir Lenin wird von den Deutschen per Zug zurück nach Russ land gebracht – für innere Revolution und äußeren Frieden.

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