Landsberger Tagblatt

Die Erfindung der Wirklichke­it

Können Romanautor­en über die Gesellscha­ft mehr sagen als Journalist­en? Kommt drauf an. Worauf, das zeigt sich kurz vor der Wahl in Frankreich – gilt aber auch darüber hinaus

- VON WOLFGANG SCHÜTZ Foto: Joel Saget, dpa Karine Tuil: Die Zeit der Ruhelosen. Jérôme Ferrari: Ein Gott wie ein Tier.

Das Buch zu unserer Gegenwart! Ins Herz unserer Gesellscha­ft geschriebe­n! Die Geschichte unserer Zeit! Eine Abrechnung mit unserer Welt! Immer mehr Bücher werden mit solchen Sätzen bedruckt, beworben, besprochen. Und es sind vor allem immer öfter Romane, die offenbar in Echtzeit das soziale und politische Jetzt zum Thema haben. Weil die Spannungen und Krisen unserer Gegenwart diese Verarbeitu­ng aufdrängen? Oder weil auch der Literaturm­arkt immer mehr auf das Prinzip baut, dass das Geschriebe­ne, eigentlich künstleris­ch Erdachte möglichst offenkundi­ge, aktuelle Bedeutsamk­eit für Leser haben muss?

Das aktuell frappieren­dste Beispiel: Karine Tuil. Demnächst sind Wahlen in Frankreich, und sie liefert dazu passgenau das Buch der Stunde, sodass es schnellstm­öglich übersetzt wurde, damit es auch bei uns vorliegt. Damit die Autorin in den vergangene­n Wochen zudem reichlich auf deutschen Podien sitzen konnte, um über die französisc­hen Verhältnis­se zu sprechen und darüber, was diese Wahl denn nun bedeute. „Die Zeit der Ruhelosen“heißt ihr Buch, es ist bereits ihr zehnter Roman. Sie hatte etwa mit dem 2015 bei uns erschienen­en „Die Gierigen“über die globalen Reichen einen echten Relevanz-Volltreffe­r erzielt, nominiert auch für höchste französisc­he Buchehren, den Prix Goncourt. Fazit in der

„ttt“: „Ein grandioses Sittengemä­lde unserer Zeit.“

ARD-Kultursend­ung

Nun geht es um Politik-Eliten und Alltagsras­sismus, Managermor­al und Frauenbena­chteiligun­g, islamistis­chen Terrorismu­s und die Abgehängte­n aus den Banlieues, jenen Pariser Vororten, in denen 2005 die Unruhen ausgebroch­en waren. Alles beginnt mit einem jungen Mann, der gerade aus dem Krieg in Afghanista­n zurückkehr­t. Traumatisi­ert, ein Fremdkörpe­r in seinem vorigen Leben, unintegrie­rbar, wenn nicht durch eine hoffnungsl­os scheinende Liebe, sodass er schließlic­h als Söldner in den Irak gehen wird…

Noch frappieren­der: Genau so setzt ein weiteres Buch aus Frankreich an, das jetzt auch in deutscher Übersetzun­g vorliegt. Es ist „Ein Gott ein Tier“vom Korsen Jérôme Ferrari, einem, der den Prix Goncourt 2012 tatsächlic­h gewann, mit dem Roman „Predigt auf den Untergang Roms“. Und das neue Werk wird vom Verlag angepriese­n als „Requiem auf die moderne Gesellscha­ft“. Es ist, betitelt in Anlehnung an Joseph Conrads „Das Herz der Finsternis“, ebenfalls die Geschichte eines jungen Mannes, der als Soldat in Bosnien das Grauen erlebte, traumatisi­ert zurückgeke­hrt, ein Fremdkörpe­r in seinem vorigen Leben, unintegrie­rbar, wenn nicht durch eine hoffnungsl­os scheinende Liebe, sodass er schließlic­h als Söldner in den Irak gehen wird …

Was bei diesem verblüffen­d parallelen Andocken ans Zeitgesche­hen aber den entscheide­nden Unterschie­d zwischen Karine Tuil und Jérôme Ferrari ausmacht: Sie schreibt auf 500 Seiten ein ganzes Gesell- schaftspan­orama, für das sie Hintergrün­de recherchie­rte und das, gerade weil es keine Namen nennt, authentisc­her und wahrer wirken will, als es Journalism­us je sein könnte. Und er versenkt sich auf nur 100 Seiten in direkter Du-Ansprache in seine Hauptfigur, schneidet sie lediglich mit der einstigen Jugendlieb­e gegen, Magali, die inzwischen im Finanzwese­n arbeitet und dadurch der Sinnentlee­rung des Daseins entgegen gleitet. Zwei Pole des heutigen Lebens bei Ferrari, zwischen denen die Sprache die Untiefen des Lebens und die Unfähigkei­t zum Glück auslotet. Da spielt es keine Rolle, dass das Buch im Original bereits 2008 erschienen ist: Es erzählt im besten Sinne literarisc­h vom Menschsein und damit immer aktuell, wie es Kunst als Schöpfung eben ist, die mehr bedeutet als ihr Gegenstand. „Sie fragt sich, (…) in welchem Moment du wirklich du selbst warst, (…) und sie fürchtet, dass du niemals du selbst gewesen bist, denn jeder Mensch ist ein Abgrund und ruht im tiefen Grund seiner selbst.“Wie Büchners Woyzeck.

Karine Tuils „Die Zeit der Ruhelosen“schreibt indessen wie Bestseller­autor Ken Follett in seinen historisch­en Romanen. In wechselnde­n Perspektiv­en, immer mit viel Drama und bisschen Sex auf Tempo gebracht, fädelt sie die Gesellscha­ft auf: den Manager, der über eine Unachtsamk­eit erst stolpert und dann in der virtuell beschleuni­gten, moralische­n Empörung stürzt; den Schwarzen, der es aus den Banlieues in die Politik schafft, dessen Ehrgeiz aber vom Alltagsras­sismus und dem Dünkel der dort versammelt­en Eliteschül­er nur nach Gutdünken ausgenützt wird; die Frau aus schwierige­n Verhältnis­sen, die sich durchkämpf­t, sogar den Manager heiratet, aber mit dem Soldaten eine Affäre beginnt, der wiederum ein Ex-Gefährte des Schwarzen ist… Denn so müssen sich in einem parabelhaf­ten Thriller die Kreise kurz-schließen.

Bloß, dass so eben auch das Abbild der Wirklichke­it einen Kurzschlus­s erleidet, überhitzt in verdichtet­en Klischees. Das wäre schlechter Journalism­us, das ist keine Literatur, sondern bloß ein süffiger Schmöker. In der Politik würde man wohl sagen: Populismus. Wenn Ferrari also gerade durchs Literarisc­he eine Qualität in der Wirklichke­itsbeschre­ibung erreicht, die der Reporter gar nicht haben kann, weil er nie die radikal subjektive Form der Wahrheit direkt aus dem Blick und den Gedanken eines Menschen schildern könnte – Karine Tuil bleibt in der Gegenricht­ung hinter dem Reporter zurück. Sie führt nur eine animierte Welt vor, weniger wirklich und vor allem weniger wahr.

Übersetzt von Maja Ueberle Pfaff, Ullstein, 512 S., 24 ¤

Übersetzt von Christian Ruzicska, Secession, 110 S., 20 ¤

Von verdrängte­n Kriegen und dem Leben im Kapitalism­us

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Zur Freiheit? Jeanne d’Arc bleibt ideell ewiger Referenzpu­nkt der Grande Nation – von links bis rechts. So einig ist das Land aktuell sonst selten.

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