Die Erfindung der Wirklichkeit
Können Romanautoren über die Gesellschaft mehr sagen als Journalisten? Kommt drauf an. Worauf, das zeigt sich kurz vor der Wahl in Frankreich – gilt aber auch darüber hinaus
Das Buch zu unserer Gegenwart! Ins Herz unserer Gesellschaft geschrieben! Die Geschichte unserer Zeit! Eine Abrechnung mit unserer Welt! Immer mehr Bücher werden mit solchen Sätzen bedruckt, beworben, besprochen. Und es sind vor allem immer öfter Romane, die offenbar in Echtzeit das soziale und politische Jetzt zum Thema haben. Weil die Spannungen und Krisen unserer Gegenwart diese Verarbeitung aufdrängen? Oder weil auch der Literaturmarkt immer mehr auf das Prinzip baut, dass das Geschriebene, eigentlich künstlerisch Erdachte möglichst offenkundige, aktuelle Bedeutsamkeit für Leser haben muss?
Das aktuell frappierendste Beispiel: Karine Tuil. Demnächst sind Wahlen in Frankreich, und sie liefert dazu passgenau das Buch der Stunde, sodass es schnellstmöglich übersetzt wurde, damit es auch bei uns vorliegt. Damit die Autorin in den vergangenen Wochen zudem reichlich auf deutschen Podien sitzen konnte, um über die französischen Verhältnisse zu sprechen und darüber, was diese Wahl denn nun bedeute. „Die Zeit der Ruhelosen“heißt ihr Buch, es ist bereits ihr zehnter Roman. Sie hatte etwa mit dem 2015 bei uns erschienenen „Die Gierigen“über die globalen Reichen einen echten Relevanz-Volltreffer erzielt, nominiert auch für höchste französische Buchehren, den Prix Goncourt. Fazit in der
„ttt“: „Ein grandioses Sittengemälde unserer Zeit.“
ARD-Kultursendung
Nun geht es um Politik-Eliten und Alltagsrassismus, Managermoral und Frauenbenachteiligung, islamistischen Terrorismus und die Abgehängten aus den Banlieues, jenen Pariser Vororten, in denen 2005 die Unruhen ausgebrochen waren. Alles beginnt mit einem jungen Mann, der gerade aus dem Krieg in Afghanistan zurückkehrt. Traumatisiert, ein Fremdkörper in seinem vorigen Leben, unintegrierbar, wenn nicht durch eine hoffnungslos scheinende Liebe, sodass er schließlich als Söldner in den Irak gehen wird…
Noch frappierender: Genau so setzt ein weiteres Buch aus Frankreich an, das jetzt auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Es ist „Ein Gott ein Tier“vom Korsen Jérôme Ferrari, einem, der den Prix Goncourt 2012 tatsächlich gewann, mit dem Roman „Predigt auf den Untergang Roms“. Und das neue Werk wird vom Verlag angepriesen als „Requiem auf die moderne Gesellschaft“. Es ist, betitelt in Anlehnung an Joseph Conrads „Das Herz der Finsternis“, ebenfalls die Geschichte eines jungen Mannes, der als Soldat in Bosnien das Grauen erlebte, traumatisiert zurückgekehrt, ein Fremdkörper in seinem vorigen Leben, unintegrierbar, wenn nicht durch eine hoffnungslos scheinende Liebe, sodass er schließlich als Söldner in den Irak gehen wird …
Was bei diesem verblüffend parallelen Andocken ans Zeitgeschehen aber den entscheidenden Unterschied zwischen Karine Tuil und Jérôme Ferrari ausmacht: Sie schreibt auf 500 Seiten ein ganzes Gesell- schaftspanorama, für das sie Hintergründe recherchierte und das, gerade weil es keine Namen nennt, authentischer und wahrer wirken will, als es Journalismus je sein könnte. Und er versenkt sich auf nur 100 Seiten in direkter Du-Ansprache in seine Hauptfigur, schneidet sie lediglich mit der einstigen Jugendliebe gegen, Magali, die inzwischen im Finanzwesen arbeitet und dadurch der Sinnentleerung des Daseins entgegen gleitet. Zwei Pole des heutigen Lebens bei Ferrari, zwischen denen die Sprache die Untiefen des Lebens und die Unfähigkeit zum Glück auslotet. Da spielt es keine Rolle, dass das Buch im Original bereits 2008 erschienen ist: Es erzählt im besten Sinne literarisch vom Menschsein und damit immer aktuell, wie es Kunst als Schöpfung eben ist, die mehr bedeutet als ihr Gegenstand. „Sie fragt sich, (…) in welchem Moment du wirklich du selbst warst, (…) und sie fürchtet, dass du niemals du selbst gewesen bist, denn jeder Mensch ist ein Abgrund und ruht im tiefen Grund seiner selbst.“Wie Büchners Woyzeck.
Karine Tuils „Die Zeit der Ruhelosen“schreibt indessen wie Bestsellerautor Ken Follett in seinen historischen Romanen. In wechselnden Perspektiven, immer mit viel Drama und bisschen Sex auf Tempo gebracht, fädelt sie die Gesellschaft auf: den Manager, der über eine Unachtsamkeit erst stolpert und dann in der virtuell beschleunigten, moralischen Empörung stürzt; den Schwarzen, der es aus den Banlieues in die Politik schafft, dessen Ehrgeiz aber vom Alltagsrassismus und dem Dünkel der dort versammelten Eliteschüler nur nach Gutdünken ausgenützt wird; die Frau aus schwierigen Verhältnissen, die sich durchkämpft, sogar den Manager heiratet, aber mit dem Soldaten eine Affäre beginnt, der wiederum ein Ex-Gefährte des Schwarzen ist… Denn so müssen sich in einem parabelhaften Thriller die Kreise kurz-schließen.
Bloß, dass so eben auch das Abbild der Wirklichkeit einen Kurzschluss erleidet, überhitzt in verdichteten Klischees. Das wäre schlechter Journalismus, das ist keine Literatur, sondern bloß ein süffiger Schmöker. In der Politik würde man wohl sagen: Populismus. Wenn Ferrari also gerade durchs Literarische eine Qualität in der Wirklichkeitsbeschreibung erreicht, die der Reporter gar nicht haben kann, weil er nie die radikal subjektive Form der Wahrheit direkt aus dem Blick und den Gedanken eines Menschen schildern könnte – Karine Tuil bleibt in der Gegenrichtung hinter dem Reporter zurück. Sie führt nur eine animierte Welt vor, weniger wirklich und vor allem weniger wahr.
Übersetzt von Maja Ueberle Pfaff, Ullstein, 512 S., 24 ¤
Übersetzt von Christian Ruzicska, Secession, 110 S., 20 ¤
Von verdrängten Kriegen und dem Leben im Kapitalismus