Kassel ist jetzt erst mal in Athen
Deutschland kommt später: In der krisengebeutelten griechischen Hauptstadt hat die weltweit wichtigste Ausstellung für zeitgenössische Kunst eröffnet. Ein Rundgang
Documenta? Der Taxifahrer zuckt mit den Schultern. Und auch die Passanten am zentralen Syntagma-Platz, wo bereits Jutesäcke für eine Performance ausliegen, wissen mit dem Begriff nichts anzufangen. Wie auch? Die dezenten schwarzweißen Plakate sind in der Stadt allenfalls diskret verteilt, und sowieso drücken die Athener andere Sorgen. Drei Tage haben die Postler gestreikt, Anfang der Woche waren 4000 wütende Rentner auf der Straße, weil sie aus Brüssel das Allerschlimmste befürchten.
Nein, um die weltweit größte und immer noch wichtigste Ausstellung zeitgenössischer Kunst wird kein olympisches Theater gemacht. Dass der Documenta-Auftakt zum ersten Mal nicht im deutschen KunstMekka Kassel, sondern – auch das ist ein Novum – bei einem gleichberechtigten Partner außer Landes stattfindet? Kratzt vermutlich nur die Deutschen. In der Athener Kunstszene gibt man sich gelassen abwartend.
Anderes bleibt einem kaum übrig bei einem künstlerischen Leiter, der geradezu stoisch den Schweiger gibt, weil er sich „erwartungslose Besucher“wünscht. Aber nun sitzt der verhuscht schmalgliedrige Adam Szymczyk leibhaftig auf der Bühne der Megaron-Konzerthalle und raunt und stöhnt und zischt im Pulk mit gut 150 Künstlern und Kuratoren. Das ist die Einstiegsperformance zu einer Pressekonferenz, die bald in eine Kundgebung politischer Bekenntnisse hinübergleitet – von Szymczyks Plädoyer, angesichts einer neoliberalen Politik nicht alles den gewählten Vertretern zu überlassen, bis hin zur Aufrollung dunkelster deutscher Gegenwart: Freunde des 2006 in Kassel ermordeten NSU-Opfers Halit Yozgat riefen zur Überwindung von Grenzen und Nationen auf.
Die inhaltliche Ausrichtung dieser 14. Documenta ist damit zwar überdeutlich geworden, die Kunst dagegen schwer zu umreißen. Bekannte Namen, die man sofort mit einem Stil oder Konzept verbinden könnte, tauchen eher selten auf. Documenta-Chef Szymczyk will partout von den üblichen Kunstpräsentationen abweichen, doch das ist längst nicht so neu, wie es hier dauernd beteuert wird. Und man sollte dem meisten nicht zu nah kommen, freundliche Wächter passen auf wie im klassischen Museum, das ja eigentlich ein sperriges Relikt ist.
Eine Route? Will keiner der Kuratoren empfehlen. Man möge sich bitte treiben lassen, von einem Ort zum anderen. Nur besteht ein Gutteil des Documenta-Programms aus Tanz, Film, Debatten, Radiosendungen, Konzerten und vor allem Performances. Wer etwas sehen will, muss sich an den Stundenplan halten und kapituliert dann schnell vor dessen Fülle. Dazu kommt, dass man in Athen nicht eben mal um die Ecke biegt, um „ganz zufällig“ins nächste kleine Atelier zu stolpern. Es gibt sagenhafte 40 Schauplätze, die quer über die Stadt verteilt sind. Und die soll schließlich 100 Tage lang zur „sozialen Skulptur“werden, da braucht es in einer Metropole schon auch Masse.
Im Konservatorium werden Nevin Aladags Musiker jedenfalls kaum warten – wie nach der Pressekonferenz –, bis genügend Besucher auf ihre Kosten kommen. Wobei die zu Musikinstrumenten umgebauten Möbel der Berlinerin auch ohne Klang von großem Reiz sind. Das mit Geigenbauers Zutaten zum Cello umfunktionierte Schiebeschränkchen verblüfft genauso wie die Harfe am Stuhlrücken. Und man darf über die Traditionen einfacher Instrumente nachdenken, für die keine ethnischen Grenzen je gegolten haben.
Die Malerei ist in Szymczyks gedoppelter Megaschau nicht untergegangen, wie in den letzten Wochen geunkt wurde. Ihren Platz hat sie praktischerweise in den größeren Institutionen gefunden – in Athen ist das etwa das sehr sehenswerte Nationale Museum für Zeitgenössische Kunst, das durch die Krise nie richtig in die Gänge gekommen war. Seine Sammlung griechischer Kunst seit den späten 70er Jahren wird nach Kassel ins Fridericianum wandern, im freigeräumten Gebäude erlebt man dafür einen beträchtlichen Documenta-Querschnitt.
Da sind die kühlen sozialistischrealistischen Porträts albanischer Arbeiterinnen der 60er Jahre und das leuchtend bunte Flaggenprojekt der norwegischen Malerin Synnøve Persen vom Volk der Samen. Dann stechen die schon im Vorfeld diskutierten Masken ins Auge, die der vor wenigen Tagen erst verstorbene Kanadier Beau Dick vom Stamm der Kwakwaka’wakw geschnitzt hat. Im Verlauf der Documenta gehen sie Stück für Stück wieder nach Hause, um dort rituell verbrannt zu werden.
Ob sämtliche Kwakwaka’wakw mit diesem „Kulturtransfer“einverstanden sind, will man gar nicht so genau wissen und fühlt sich auch an die letzte Documenta erinnert. Da wollte Carolyn Christov-Bakargiev einen Meteoriten eben mal nach Kassel verfrachten – was „pueblos originarios“verhindern konnten. Indigenes, Unterdrücktes, Zukurzgekommenes nimmt auch diesmal einen nicht zu übersehenden Raum ein, und vieles wirkt wie ein nachträgliches Zurechtrücken und Wiedergutmachen.
Ob die Documenta deshalb in den gebeutelten Süden reisen musste? „Von Athen lernen“lautet das Motto, das Adam Szymczyk diesem millionenschweren Schüleraustausch aufgepappt hat. Unterhält man sich mit griechischen Kollegen, dann rollen die schon mal die Augen. Die Hausaufgaben, die Finanzminister Schäuble erledigt wissen wollte, sind keineswegs vergessen. Einfach mal die Plätze zu tauschen, klinge doch ein bisschen geheuchelt, meint Foivos, der eben auf der kleinen, nicht kommerziellen Biennale am Omonia-Platz aufgetreten ist. Zwischendurch fällt auch das Wort Charity: Mit einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Athen einzufallen, kann leicht den Stolz der Griechen verletzen.
Aber wenigstens wissen die mehrheitlich studentischen Biennale-Besucher im hinfälligen BageionHotel, dass es diese Documenta 14 überhaupt gibt. Unter der Akropolis ist das eine ganze Menge.
Die ganze Stadt soll hundert Tage lang eine „soziale Skulptur“werden