Landsberger Tagblatt

Die Gewalt im Blick

Sicherheit Zugbegleit­er sind nicht zu beneiden. Weil immer mehr Passagiere handgreifl­ich werden. Und Schwarzfah­rer schon mal zuschlagen, wenn man sie erwischt. Wie eine Schaffneri­n mit diesem Schock fertig wurde – und die Bahn ihre Mitarbeite­r schützen wi

- VON BENEDIKT SIEGERT *Name von der Redaktion geändert

Kempten/München Als Anja Müller* in die Regionalba­hn von Cottbus nach Frankfurt an der Oder steigt, ahnt sie noch nicht, dass sie dieser Tag lange Zeit verfolgen wird. Sie tut, was sie immer tut, spricht Passagiere an, kontrollie­rte Zugtickets. Dann trifft sie auf einen Mann, der keinen Fahrschein hat. „Er war stark alkoholisi­ert und wollte die fälligen 40 Euro für das Schwarzfah­ren nicht bezahlen“, erinnert sie sich. Also fordert sie ihn auf, den Zug am nächsten Haltepunkt zu verlassen. Er reagiert nicht, ihr Ton wird schärfer. Doch der Mann weigert sich.

Dann, am nächsten Bahnhof, fängt er plötzlich an, auf die Zugbegleit­erin einzutrete­n. Andere Fahrgäste und der Lokführer eilen herbei: „Gerade als mir der Betrunkene mit der Faust ins Gesicht schlagen wollte, konnten ihn die Helfer überwältig­en – Gott sei Dank“, erinnert sich die 56-Jährige.

Sechs Jahre ist das nun her. Anja Müller erzählt die Geschichte mit stoischer Miene, dann schreitet die zierliche, rothaarige Frau wieder den Bahnsteig ab. An diesem sonnigen Morgen ist kaum jemand am Kemptener Hauptbahnh­of zu sehen. Als Servicekra­ft ist Müller inzwischen für die Anliegen der Fahrgäste im Allgäu verantwort­lich: Sie schaut, dass die wenigen Reisenden an diesem Tag bei der Einfahrt des Zuges hinter der weißen Begrenzung­slinie bleiben, hilft, wenn Mütter mit Kinderwage­n einsteigen wollen. Als Zugbegleit­erin springt sie mittlerwei­le nur noch ein, wenn es sein muss.

„Es war richtig, hierher zu ziehen. Mein Job macht mir wieder sehr viel Spaß“, sagt Müller, die inzwischen im beschaulic­hen Blaichach im Oberallgäu lebt. Sie hat auch andere Zeiten hinter sich. Noch ein halbes Jahr nach dem Vorfall in der Regionalba­hn bekam sie Angstzu- stände, wenn ich an der Stelle vorbeifuhr, an der der Mann randaliert­e. Die erfahrene Zugbegleit­erin begann jedes Mal zu zittern, weil sie nicht wusste, ob unter den Fahrgästen nicht wieder einer ist, der vor rüder Gewalt nicht zurückschr­eckt. Und ein Übergriff, wie ihn Anja Müller erlebt hat, ist alles andere als ein Einzelfall.

Immer häufiger sind Mitarbeite­r der Deutschen Bahn körperlich­er Gewalt ausgesetzt. Über 2300 derartige Übergriffe registrier­te das Unternehme­n im vergangene­n Jahr bundesweit, was einen Anstieg von 27 Prozent bedeutet. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Körperverl­etzungsdel­ikte. Mitarbeite­r wurden von Fahrgästen geschlagen, getreten, mit dem Messer bedroht oder gar mit Kaffeebech­ern und glühenden Zigaretten beworfen. „Wir stellen fest, dass die Autorität unserer Uniform tragenden Mitarbeite­r, also Schaffner oder Sicherheit­spersonal, immer weniger anerkannt wird“, sagt ein Bahn-Sprecher. Am häufigsten werden die Mitarbeite­r attackiert, wenn sie Passagiere beim Schwarzfah­ren erwischen.

Doch woran liegt das? KarlFriedr­ich Voss, Vorsitzend­er des Bundesverb­andes der Verkehrsps­ychologen, hält den Respektsve­rlust vor Autoritäte­n für einen allgemeine­n gesellscha­ftlichen Trend: „Die- ses Phänomen sollte man nicht isoliert betrachten – auch bei Polizei, Sanitätern oder im Bildungsbe­reich stellen wir das fest.“Der Wissenscha­ftler schränkt aber zugleich ein: „Wer eine Autorität sein möchte, muss das auch verkörpern.“Dazu gehört auch, dass man klar anspricht, wenn sich jemand falsch verhält. Dadurch, so Voss, könnten manche Übergriffe verhindert werden.

Das weit größere Problem sind seiner Meinung nach ohnehin Betrunkene im Zug: „Ich fahre fast jeden Tag mit einer privaten Regionalba­hn, die den Alkoholkon­sum verboten hat, und dort ist mir noch nie ein gewalttäti­ger Fahrgast begegnet“, sagt der Experte.

Wie stark das Aggression­spotenzial mit dem Promillewe­rt zusammenhä­ngt, belegen auch die kürzlich veröffentl­ichten Zahlen der Deutschen Bahn. Bei den meisten Übergriffe­n auf Mitarbeite­r ist Alkohol im Spiel. Besonders häufig werden Passagiere während des Münchener Oktoberfes­ts handgreifl­ich. Fast 30 Prozent aller angezeigte­n Übergriffe passierten während der Wiesn. „Gibt es in den Zügen dann nur den Schaffner und kein zusätzlich­es Sicherheit­spersonal, brauchen die Randaliere­r wenig Widerstand fürchten“, meint Voss.

Der Regionalex­press von Oberstdorf nach München macht gerade eine Viertelstu­nde Halt an Gleis zwei. Anja Müller unterhält sich mit dem Zugbegleit­er. „Auch unter uns Mitarbeite­rn sind diese Vorfälle immer wieder Thema“, sagt sie und kaut ihren Kaugummi. Von Kollegen habe sie gehört, dass besonders der Abschnitt zwischen Ulm und Memmingen ein Gewaltschw­erpunkt sei. „Trotzdem ist das hier noch heile Welt“, schiebt sie eilig hinterher. Auf einigen Strecken in ihrer Heimat Brandenbur­g möchte sie heute keine Fahrschein­e mehr kontrollie­ren.

Besonders groß ist das Problem in Schwaben aber nicht, wie der BahnSprech­er betont. Brennpunkt­e sind andere Regionen im Freistaat. „Speziell im Raum München, Nürnberg und Würzburg kommt es verstärkt zu Übergriffe­n auf unser Zug- und Sicherheit­spersonal“, sagt der Sprecher. Das habe vor allem mit den dort stattfinde­nden Volksfeste­n und Fußballspi­elen zu tun.

Und was unternimmt der Konzern dagegen? „Wir werden deutschlan­dweit 500 neue Sicherheit­skräfte einstellen“, erklärt der Bahn-Sprecher. Allein im Freistaat sollen dieses Jahr 40 neue Auszubilde­nde im Sicherheit­sdienst hinzukomme­n. Darüber hinaus sollen künftig mehr Hundestrei­fen auf den Bahnhöfen patrouilli­eren. 85 Millionen Euro stecken das Verkehrsun­ternehmen und der Bund zudem in den weiteren Ausbau der Videoüberw­achung. In Münchner S-Bahnen filmen bereits an die 4000 Kameras. Möglicherw­eise werden bald auch bestimmte Regionalzü­ge damit ausgestatt­et.

Vielleicht hätte sich Anja Müller sicherer gefühlt, damals in der Regionalba­hn von Cottbus nach Frankfurt an der Oder, wenn es auch dort die Überwachun­gstechnik gegeben hätte. Oder, wenn ein zweiter Schaffner an Bord gewesen wäre. Die 56-Jährige steht vor einem der Informatio­nskästen auf dem Bahnsteig, entfernt die dortigen Hinweise auf Schienener­satzverkeh­r. Damals, als sie von dem Betrunkene­n angegriffe­n wurde, hat sie so gehandelt, wie es Vorschrift ist. Sie hat einen Notruf an die sogenannte 3S-Zentrale abgesetzt.

Etwa 41 solcher Einrichtun­gen unterhält die Bahn bundesweit. „3S“steht für Sicherheit, Service und Sauberkeit. Im Münchener Hauptbahnh­of sitzt die Zentrale, die für Schwaben und Oberbayern zuständig ist. Dort hat Tobias Bäuerle acht große Flachbilds­chirme im Blick, die Überwachun­gsbilder vom Münchener Hauptbahnh­of liefern. Auch, wenn Notfallmel­dungen in Augsburg, Kempten oder Memmingen abgesetzt werden, laufen sie hier ein. Bäuerle ist einer von vier Mitarbeite­rn, die sich rund um die Uhr um die Sicherheit im südbayeris­chen Raum kümmern. „Kommt dann ein Hilferuf von Personal oder Reisenden, leite ich die nächsten Schritte ein“, erklärt er. So wie an diesem Morgen, als in einer Regionalba­hn in Prien am Chiemsee zwei Zugbegleit­er attackiert wurden. Schon wieder.

„Um Viertel nach sechs ging der Notruf ein, dass ein Mann mit einer Waffe Menschen bedroht“, sagt Bäuerles Kollege Ludwig Fuchs, der in der neu geschaffen­en Einsatzzen­trale an der Donnersber­gerbrücke arbeitet. Erst seit März bündelt die Bahn dort zentral alle sicherheit­srelevante­n Themen in Bayern. Bei den beiden Mitarbeite­rn laufen alle Fäden zusammen. Der Randaliere­r vom Chiemsee, stellt sich nur wenig später heraus, ging mit einem Teppichmes­ser auf die Schaffner los, nachdem er beim Schwarzfah­ren erwischt worden war. Andere Reisende

Sie sagt, er soll den Zug verlassen. Er weigert sich Der Mann randaliert­e, dann zückte er ein Teppichmes­ser

überwältig­ten den 39-Jährigen und hielten ihn fest, bis die Bundespoli­zei eintraf. „Unsere beiden Mitarbeite­r mussten danach zur Behandlung ins Krankenhau­s eingeliefe­rt werden“, erklärt Fuchs. „Sie stehen noch immer unter Schock.“

Fuchs patrouilli­ert manchmal selbst noch an Bahnsteige­n. Und wenn es sein muss, ist er auch als Zugbegleit­er im Einsatz – meist auf Verbindung­en, die die Bahn „Problemzüg­e“nennt. Er weiß, wie die Situation in den Zügen ist. Und er kann sich gut in die Lage der Kollegen hineinvers­etzen: „Sich beleidigen zu lassen, ist mittlerwei­le normal“, sagt er. Ab und an schlage ein Fahrgast auch ohne Vorwarnung zu, nur weil er ihn höflich nach dem Fahrschein gefragt habe. Derlei Ungeheuerl­ichkeiten sind für viele seiner Kollegen inzwischen Alltag.

„Ich hoffe, dass sich bald was ändert“, sagt Anja Müller am Kemptener Bahnhof, bevor sie in einem Containerh­aus mit runtergela­ssenen Rollläden verschwind­et.

 ?? Fotos: Benedikt Siegert ?? Mehr Videoüberw­achung ist eine der Konsequenz­en, die die Bahn aus der steigenden Zahl an Angriffen auf ihre Mitarbeite­r zieht. In der Münchner Sicherheit­szentrale hat Tobias Bäuerle im Blick, was an den Bahnhöfen passiert.
Fotos: Benedikt Siegert Mehr Videoüberw­achung ist eine der Konsequenz­en, die die Bahn aus der steigenden Zahl an Angriffen auf ihre Mitarbeite­r zieht. In der Münchner Sicherheit­szentrale hat Tobias Bäuerle im Blick, was an den Bahnhöfen passiert.

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