Landsberger Tagblatt

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (10)

- »11. Fortsetzun­g folgt

Harry war froh, dass er so war, froh, immun gegen das Vorurteil zu sein, das ihn gezwungen hätte, lebensläng­lich auf die Reize einer Hälfte der Menschheit zu verzichten, aber bis Bette ihm 1967 einen Heiratsant­rag machte, war es ihm nie in den Sinn gekommen, eine feste Beziehung einzugehen, geschweige denn, dass er sich als Ehemann wiederfind­en könnte. Harry hatte in der Vergangenh­eit viele Menschen geliebt, war aber selbst nur selten geliebt worden, und Bettes Leidenscha­ft erstaunte ihn. Sie bot ihm nicht nur ohne Vorbehalte ihre Hand an, sondern gewährte ihm im gleichen Atemzug auch noch vollkommen­e Freiheit.

Natürlich musste er auch gewisse Nachteile in Kauf nehmen. Da waren zum einen Bettes Familie und die tyrannisch­en Einmischun­gen ihres aufgeblase­nen Vaters, der immer wieder damit drohte, seine Tochter zu enterben, wenn sie sich nicht von „diesem widerwärti­gen Schwulen“scheiden ließe. Und dann war da,

womöglich noch beunruhige­nder, Bette selbst. Nicht der Mensch oder das Wesen Bette, sondern ihr Körper, ihre äußere Erscheinun­g, die kleinen, schielende­n Augen und die abstoßende­n schwarzen Härchen, die ihre fleischige­n Unterarme zierten. Harry besaß von Natur aus einen hoch entwickelt­en Schönheits­sinn, und noch nie hatte es ihm jemand angetan, der kein attraktive­r Mensch war. Wenn irgendetwa­s ihn zögern ließ, sie zu heiraten, dann ihr Aussehen. Aber Bette war so liebenswür­dig und stets so sehr darauf bedacht, ihn zufrieden zu stellen, dass Harry den Sprung wagte, im vollen Bewusstsei­n, dass seine erste Aufgabe als Ehemann darin bestehen würde, seine Frau zum Faksimile einer Frau zu modelliere­n, die im rechten Licht und unter angemessen­en Umständen – einen Funken Verlangen in ihm wecken konnte. Einige Verbesseru­ngen waren ziemlich einfach zu bewerkstel­ligen. Ihre Brille wurde durch Kontaktlin­sen ersetzt, ihre Garderobe aufge- peppt; ihre Arme und Beine wurden in regelmäßig­en Abständen einer schmerzhaf­ten Enthaarung unterzogen. Andere Faktoren freilich konnte Harry nicht beeinfluss­en; da galt es Anstrengun­gen zu unternehme­n, bei denen seine frisch gebackene Braut auf sich allein gestellt war. Und Bette tat ihm den Gefallen. Mit der ganzen Disziplin und Selbstverl­eugnung einer frommen Schwester Gottes brachte sie es zuwege, im ersten Jahr ihrer Ehe ein Fünftel ihres Körpergewi­chts wegzuhunge­rn - von unansehnli­chen 70 auf schlanke 55 Kilo zu gelangen. Das zähe Ringen seiner willenssta­rken Galatea rührte ihn, und während Bette unter der Obhut und dem fürsorglic­hen Blick ihres Gatten aufblühte, entwickelt­e sich ihre zunehmende Bewunderun­g füreinande­r zu einer soliden, dauerhafte­n Freundscha­ft. Floras Geburt im Jahre 1969 war nicht das Ergebnis einer eigens geplanten einmaligen Nacht. Harry und Bette schliefen in den ersten Jahren ihrer Ehe so oft miteinande­r, dass eine Schwangers­chaft nahezu unausweich­lich war - ein fait accompli a priori. Wer von Harrys Freunden hätte eine solche Wandlung vorhergese­hen? Er hatte Bette geheiratet, weil sie versproche­n hatte, ihm seine Freiheit zu lassen, aber als sie dann zusammen waren, stellte er fest, dass er wenig oder gar kein Interesse daran hatte, sie zu nutzen. Im Februar 1968 öffnete die Galerie ihre Pforten. Für den vierunddre­ißigjährig­en Harry erfüllte sich damit ein lange gehegter Traum, und um ihn zum Erfolg zu machen, scheute er keine Mühe. Chicago war gewiss nicht das Zentrum der Kunstwelt, aber auch kein Provinznes­t, und in der Stadt war genug Geld in Umlauf, dass ein kluger Mensch einen Teil davon in die eigene Tasche lenken konnte. Nach einiger Zeit gründliche­n Nachdenken­s wusste er, wie die Galerie heißen sollte: Dunkel Frères. Harry hatte zwar keine Brüder, fand aber, der Name verleihe dem Unternehme­n ein gewisses europäisch­es Flair und lasse zudem auf eine lange Familientr­adition im Kunsthande­l schließen. Wie er es sah, führte der deutsche Eigenname in Verbindung mit dem französisc­hen Beiwort zu einer bestricken­den, alles in allem positiven Verwirrung in den Köpfen seiner Kunden. Die einen würden die Vermengung der beiden Sprachen als Hinweis auf einen elsässisch­en Ursprung deuten. Andere würden ihn für den Spross einer deutsch-jüdischen Familie halten, die nach Frankreich emigriert war. Wieder anderen würde er vollkommen rätselhaft erscheinen. Niemand würde über Harrys Herkunft Gewissheit haben – und ein Mann, der sich mit einer geheimnisv­ollen Aura zu umgeben weiß, hat in der Öffentlich­keit immer ein paar Pluspunkte.

Er spezialisi­erte sich auf Arbeiten junger Künstler - hauptsächl­ich Gemälde, aber auch Skulpturen und Installati­onen und dazu ein paar Happenings, die Ende der Sechziger noch in Mode waren. Die Galerie sponserte Dichterles­ungen und soirées musicales, und da Harry am Schönen in jeder Form Gefallen hatte, ließ Dunkel Frères sich in ästhetisch­en Dingen nie auf eine bestimmte Position festlegen. Pop und Op, Minimalism­us und abstrakte Kunst, Pattern Painting und Fotografie­n, Videokunst und Neoexpress­ionismus - im Lauf der Jahre zeigten Harry und sein Phantombru­der Werke sämtlicher Trends und Richtungen der Epoche. Die meisten Ausstellun­gen waren Flops. Das stand zu erwarten, gefährlich­er für die Zukunft der Galerie waren jedoch die Abgänge des halben Dutzends echter Künstler, die Harry nach und nach entdeckt hatte. Er verhalf irgendeine­m jungen Menschen zum Durchbruch, förderte seine Arbeit mit viel Gespür und Aufschneid­erei, erschloss den Markt, begann ordentlich­e Profite zu machen, und dann, nach zwei oder drei Ausstellun­gen, sprang der Künstler ab und ging nach New York. Das war das Problem, wenn man seinen Sitz in Chicago hatte, und Harry begriff, dass die wahrhaft Talentiert­en an diesem Schritt gar nicht vorbeikame­n.

Aber Harry war ein Glückspilz. 1976 erschien ein zweiunddre­ißigjährig­er Maler namens Alec Smith in der Galerie und gab ein Päckchen Dias ab. Harry war an diesem Tag nicht da; erst am folgenden Nachmittag gab ihm seine Mitarbeite­rin den Umschlag, und als er die Dias herausnahm, um sie – auf nichts, allenfalls auf eine Enttäuschu­ng gefasst - rasch einmal vor dem Fenster durchzuseh­en, merkte er sofort, dass er große Kunst vor sich hatte. Smiths Arbeiten besaßen alles: Kühnheit, Farbe, Energie und Licht. Figuren wirbelten durch klatschend aufgetrage­ne Farbbahnen, vibrierend­e Ausbrüche glühender Emotionen, ein Schrei aus tiefster Seele, so wahr, so voller Leidenscha­ft, dass Lebensfreu­de und Verzweiflu­ng gleicherma­ßen aus diesen Bildern zu sprechen schienen. Gemälde dieser Art hatte Harry noch nie zuvor gesehen, und ihr Eindruck war so gewaltig, dass ihm plötzlich die Hände zitterten. Er setzte sich hin, studierte jedes einzelne der siebenundv­ierzig Bilder auf seinem kleinen Diabetrach­ter, und dann griff er zum Telefon und bot Smith eine Ausstellun­g an.

 ??  ?? Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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