Landsberger Tagblatt

Hartes, herzliches Hüttenlebe­n

Tourismus Wirtin in den Bergen zu sein, ist ein Knochenjob, sagt Petra Wagner. Und doch kann die Allgäuerin es kaum erwarten, bis sie gemeinsam mit Ehemann Gerhard wieder in die Saison startet. Nach monatelang­er Pause gibt es allerdings eine böse Überrasc

- VON ORLA FINEGAN Musau

Als Gerhard Soyer-Wagner zum ersten Mal in diesem Jahr auf der Otto-Mayr-Hütte das Wasser anstellt, spritzt es in jedem Geschoss irgendwo aus der Leitung. Wasserrohr­bruch. Auf 1530 Metern Höhe. Statt die Satelliten­anlage auf dem Dach anzubringe­n, das Blockheizk­raftwerk zu starten und das Geländer an der Terrasse anzubringe­n, sucht er mit seinen Freunden das Leck in der Leitung. Statt die Sitzkissen zu beziehen, die großen Dosen mit den Gewürzen in die Küchenrega­le zu räumen und die Blumen – kistenweis­e Elfenspieg­el und Hornveilch­en – aus den Autos zu holen, wischen die Frauen die Wasserpfüt­zen auf. Das fängt ja gut an.

Sie haben nur noch 24 Stunden Zeit, bis die Holländer kommen – und noch so viel zu tun. Petra Wagner, Chefin auf der Hütte und Gerhards Ehefrau, legt die Stirn in Falten, werkelt aber weiter in der Küche. Hilft ja nichts. Sieben Monate waren Türen und Fensterläd­en verrammelt und die Wagners mit ihren beiden Töchtern fest in ihr Winterlebe­n in Durach bei Kempten eingebunde­n. Petra als Vollzeit-Mutter der neunjährig­en Mattli und der zwölfjähri­gen Vreni, Gerhard als Altholzsch­reiner. Nun beginnt ihr Hüttensomm­er in den Tannheimer Bergen. Mit 15 Helfern wird die Otto-Mayr-Hütte in Musau aus dem Winterschl­af erweckt und auf die fünfmonati­ge Saison vorbereite­t. Die gleichen Freunde, die im Oktober geholfen haben, das Haus winterfest zu machen, sind jetzt wieder dabei. Ein aufregende­r Tag.

Den Hüttensomm­er kennt Petra Wagner, seit sie ein kleines Mädchen war. Bis zum Jahr 2000 haben ihre Eltern, Elvi und Ernst, die Kemptner Hütte bei Oberstdorf betrieben. Dann übernahm Schwester Gabi mit ihrer Familie. Jetzt im Frühling beginnt überall in den Alpen wieder die Saison. Die OttoMayr-Hütte ist nur eine von 323 Schutzhütt­en, die zum Deutschen Alpenverei­n gehören. Eigentümer ist die Sektion Augsburg. DAVSpreche­r Thomas Bucher erzählt, dass der österreich­ische und Deutsche Alpenverei­n zwischen 1873 und 1945 zusammenge­hörten. Viele Häuser sind 100 Jahre und älter und liegen auf österreich­ischem Boden – auch das der Wagners.

Eine Stunde, bevor das Wasser in der Küche, im Keller und im Obergescho­ss aus den Leitungen spritzt, hat Gerhard Soyer-Wagner den voll beladenen Geländewag­en die schmale Schotterpi­ste hinaufmanö­vriert. „Ich geh im Winter nicht hoch“, hat Petra Wagner vom Beifahrers­itz aus erzählt. „Ohne Blumen und wenn alle Fenster zu sind, sieht die Hütte so traurig aus.“Ihr Mann schaut im Winter immer wieder nach dem Rechten. Doch was der Frost angerichte­t hat, merken die Pächter immer erst, wenn der Schaden schon da ist.

Gerhard hat am Vortag den Weg, so gut es ging, mit dem Traktor freigeräum­t. Der Wagen ist trotzdem auf dem Schnee geschlinge­rt. „Es ist wie ein Umzug, und das zweimal im Jahr“, sagt Petra Wagner. Gleich für den ersten Tag der Saison hat sich eine Gruppe angemeldet. 36 Holländer wollen eine Nacht auf dem Berg verbringen. „Es sind Stammgäste“, sagt die Chefin und lächelt.

Die Wirte der Schutzhütt­en leben fast ausschließ­lich von der Gastronomi­e. Zwar kann man dort in Bettenoder Matratzenl­agern auch schlafen, das Geld für die Übernachtu­ngen geht aber an den Alpenverei­n. Der Pächter erhält nur eine kleine Aufwandsen­tschädigun­g. Wer im Winter von den Gewinnen des Sommers leben will, muss also in der Küche und hinter der Theke ordentlich schuften. Um zu verhindern, dass Gäste ein Bett auf mehreren Hütten reserviere­n und dann spontan entscheide­n, wo sie übernachte­n, verlangen die Wagners eine Anzahlung. Anders geht es nicht. Trotzdem sind schon jetzt bis Mitte August an allen Samstagen die 75 Schlafplät­ze ausgebucht.

„Hütten, die an Fernwander­wegen liegen, sind sehr gut besucht“, sagt Thomas Bucher vom Alpenverei­n. Dort wechseln die Pächter eher selten, oft ist die Pacht schon seit Generation­en in der Hand einer Familie. Auf den Hütten wiederum, die abseits gelegen sind, müssten die Wirte besonders kreativ sein, um Bergsportl­er anzulocken. Dort wechseln auch die Pächter häufiger, für viele steht die harte Arbeit in keinem Verhältnis zum Gewinn.

Fünf Monate lang arbeiten Petra und Gerhard sieben Tage die Woche. Sie verzichten auf Privatsphä­re und Freizeit und lassen ihre Kinder von montags bis freitags in der Obhut von Tante und Großeltern. Wer nach einer Wanderung mit einem kühlen Bier auf der Sonnenterr­asse sitzt, das Bergpanora­ma bewundert und seufzt, wie schön es doch sein muss, hier zu arbeiten, ringt den Wagners nur ein müdes Lächeln ab.

„Es ist ein Knochenjob, es startet ja nicht mit der Saison“, hat Petra Wagner schon kurz nach Ostern am Esstisch der Familie in Durach erzählt, als sie noch das Winterlebe­n lebten. Laptop und Telefon neben sich, den Kalender mit den Buchungen vor sich, die Lesebrille ins brünette Haar geschoben. Ab Februar kommen die Reservieru­ngen per Mail und Telefon. Die Anzahlunge­n müssen verwaltet werden. Und die ganzen Listen, die die Wagners den Sommer über geschriebe­n haben, werden abgearbeit­et. Petra Wagner kennt das Geschäft von Kindesbein­en an. „Eine Hütte kannst du nur betreiben, wenn die ganze Familie hinter dir steht“, sagt sie. Da ist die Tante, die während der Saison ins Duracher Haus zieht und Vreni und Mattli betreut. Der Opa, der spontan Einkäufe hochfahren kann, wenn etwas ausgeht. Die Freunde, die sich freinehmen, um beim Umzug zu helfen. Jedes Jahr aufs Neue.

Es ist ein anstrengen­des Leben. Viele Mitarbeite­r geben nach einer Saison auf der Hütte auf. Die Wagners, beide 47 Jahre alt, machen weiter. „Ich kenne es nicht anders“, sagt Petra Wagner. Sie kann anpacken, das zeigen ihre starken Arme. Und sie möchte die Kontrolle behalten, ob in ihrer Küche oder über die Buchungen. Sie braucht immer was zu tun. Trotzdem, sagt der Ehemann, habe man auf der Hütte keinen Alltagsstr­ess. „Du hast keine Termine, kein Handynetz, du bist abgeschnit­ten von der Außenwelt.“

Seine Frau kocht, er ist für die Bedienung und die Theke zuständig. „Wir verkaufen ja auch Persönlich­keit“, sagt Petra Wagner. Da ist es wichtig, dass der Chef sich selbst um die Gäste kümmert. Vor allem aber macht es Spaß, denn die meisten Besucher sind in Urlaubssti­mmung, gut gelaunt und gesprächig.

Zwei Wochen später ist es dann so weit. Der Traktor mit Anhänger und die Geländewag­en haben den Anstieg zur Hütte geschafft und säumen den Weg zum vorderen Eingang. Endlich sperrt Gerhard Soyer-Wagner die Tür auf. Bis in den Herbst bleibt sie für Ausflügler, Wanderer und Bergsteige­r geöffnet. Zeit, um den Moment auszukoste­n, bleibt keine. Wie auch, drinnen ist es dunkel und eiskalt.

Zum zweiten Zuhause wird die Hütte erst, wenn sie mit Leben gefüllt ist. Die Frauen tragen die Kisten mit Geschirrtü­chern und Lappen in die dunkle Stube. Das Surren eines Akkuschrau­bers verrät, dass einer der Männer sich daran gemacht hat, die verschraub­ten Fensterläd­en von außen zu öffnen. Die Clique der Wagners braucht keine Anweisunge­n. Kaum angekommen, weiß jeder, was zu tun ist.

Petra Wagner marschiert in die Küche, die blank polierten Edelstahlf­lächen sind alle unter Frischhalt­efolie verpackt, als wären sie gerade erst geliefert worden. Die Küche ist ihr Reich, hier ist sie die nächsten Monate für die Maultasche­n mit Bergkäse oder die Schlutzkra­pfen, eine Tiroler NudelSpezi­alität, zuständig. Von der wohligen Wärme einer Küche ist aber noch nichts zu spüren, keine verführeri­schen Düfte hängen in der Luft. In den vergangene­n Monaten ist das Haus komplett ausgekühlt. „Das dauert, bis es warm wird“, sagt Petra Wagner und fängt an, die Folien abzuziehen.

Von nun an fährt Gerhard SoyerWagne­r immer freitags zum Einkaufen. Dann kann er auch gleich Vreni und Mattli in Durach abholen. Andere Hütten haben eine Materialse­ilbahn, mit der Vorräte oder Werkzeug hochgescha­fft werden können. Die etwas kleinere Tannheimer Hütte, die die Wagners vor einigen Jahren bewirtscha­ftet haben, hatte weder eine Bahn noch eine Zufahrt – für den großen Umzug im Frühling und im Herbst mussten sie einen Hubschraub­er mieten. Jetzt kann der Papa die Kinder einfach ins Auto packen und sonntags zurück ins Allgäu fahren.

Denn auch für die Mädchen ziehen die Wagners jeden Sommer auf die Hütte. Wenn die Saison losgeht, fließen zwar schon mal die Abschiedst­ränen. Aber wenn Mattli und Vreni an den Wochenende­n und in den Ferien bei den Eltern auf der Hütte sind, leben sie fast wie Heidi. Umringt von den Gipfeln der Roten Flüh, der Schlicke und des Schartschr­ofen, von Murmeltier­en in den Wiesen und Gämsen an den Hängen. „Langweilig wird ihnen nie“, erzählt ihre Mutter, die während der Schulzeit jeden Abend mit ihnen telefonier­t und sich von Schule und Freunden berichten lässt.

Das vorgekocht­e Gulasch köchelt schon auf dem Herd, als Petra Wagners

Auf ihre Freunde können sie sich verlassen Als Belohnung wartet ein Teller Gulasch

Vater Ernst dazustößt. Ein Allgäuer Hüttenwirt durch und durch. Mit einem markanten Bart. Der ist zwar mittlerwei­le weiß und nicht mehr pechschwar­z, aber genauso dicht wie 1966, als sein Träger Bartkönig wurde – gekürt für den schönsten Bart im ganzen Allgäu. Und schon ist der 73-Jährige mittendrin im Geschichte­nerzählen. „Gerade die Württember­ger“, plaudert er über seine Gäste, „haben immer gesungen.“Aus beiden Stuben der Kemptner Hütte habe es abends geschallt – und mehr getrunken hätten sie auch, ergänzt die Tochter. Heute stimme kaum noch eine Wandergrup­pe ein Lied an.

Der alte Wagner stellt die Brotkörbe auf die lange Tafel in der Gaststube. Er genießt es, noch dazuzugehö­ren, aber nicht mehr die ganze Verantwort­ung tragen zu müssen. Für die Helfer gibt es erst mal eine wohlverdie­nte Mittagspau­se. Zwei große dampfende Töpfe stehen auf dem Tisch, der würzige Geruch des Gulaschs erfüllt den Raum. Als jeder eine volle Schüssel vor sich stehen hat, ist außer dem Klappern der Löffel nichts mehr zu hören. Am Abend wird noch ein Handwerker aus dem Tal anrücken. Tags darauf ist der Leitungssc­haden schließlic­h behoben. Die Hütte kann wie geplant öffnen.

Petra und Gerhard Wagner sind wieder angekommen, hier oben in ihrem Sommerlebe­n.

 ?? Fotos: Ralf Lienert ?? Die Sommersais­on ist eröffnet, doch an Sommer erinnert in diesen Tagen noch wenig rund um die Otto Mayr Hütte in den Tannheimer Bergen. Sie liegt auf 1530 Metern Höhe ungefähr zwischen Füssen und Reutte in Tirol.
Fotos: Ralf Lienert Die Sommersais­on ist eröffnet, doch an Sommer erinnert in diesen Tagen noch wenig rund um die Otto Mayr Hütte in den Tannheimer Bergen. Sie liegt auf 1530 Metern Höhe ungefähr zwischen Füssen und Reutte in Tirol.

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