Landsberger Tagblatt

Joachim Kaiser, der letzte Mohikaner

Als Kritiker prägte er nicht nur das Feuilleton der Süddeutsch­en Zeitung. Er war über Jahrzehnte hinweg eine nationale Instanz für das Theater, die Literatur und vor allem für die Musik. Sein Tod beendet auch eine Ära

- VON STEFAN DOSCH München

Wenn man seine Stimme einmal vernommen, vielleicht im Radio dieses singende Ostpreußis­ch mit dem rollenden R vernommen hatte, dann konnte man fürderhin nicht anders, als seine zahllosen gedruckten Kritiken zu lesen mit eben diesem Sang im inneren Ohr. Und hatte man ihn einmal gesehen, am Bildschirm oder leibhaftig dozierend an der Münchner Volkshochs­chule, wie er den Kopf beim Wägen der Worte bedeutungs­voll zur Seite neigte und im entscheide­nden Moment nach hinten warf, dann konnte man seinen Texten, ob in der Zeitung oder in einem seiner Bücher, nicht mehr anders begegnen als mit diesem Bild vor Augen – dem Bild des Großkritik­ers.

Joachim Kaiser war ein halbes Jahrhunder­t lang die prägende Stimme, die prägende Figur der deutschen Musikkriti­k. Was Kaiser sagte, was er schrieb, wen er lobte, wen er tadelte, hatte Gewicht, auch in dem Fall, dass man mit ihm einmal nicht einer Meinung sein wollte. Seit 1959 hatte er das für die Süddeutsch­e Zeitung getan, dort war ihm die Aura zugewachse­n, eine maßgeblich­e Instanz des Kulturlebe­ns zu sein.

Was Kaiser als Kritiker unvergleic­hlich machte, war seine Passion – er selbst hätte wohl „Pathos“gesagt – für die Sache der Kultur. Seine Autorität weit über die Kreise der Kenner hinaus entstammte seiner Überzeugun­gskraft, mit der er gerade über so etwas Ungegenstä­ndliches wie Musik zu sprechen vermochte. Ob es daran lag, dass er gerade keinen Bogen um die ästhetisch­en Dinge machte? Wo Musikkriti­ker (und alle anderen auch) heute dazu neigen, um die „tönend bewegte Form“herumzured­en, um nur ja keinen zu überforder­n, da machte Kaiser das Gegenteil, hob winzige Details hervor wie jenen Phrasierun­gsbogen, der, um einen sinnvollen Musikvortr­ag zu ergeben, sich bis zum letzten Achtel eines Taktes spannen müsse und nicht bloß bis zum vorletzten – und verstand es mit seiner Hingabe, alle, die schon immer glaubten, nichts von Musik zu verstehen, zauberisch für die Sache der Kunst einzunehme­n. Sinngemäß äußerte Kaiser einmal: Wenn einer sagt, er liebe die Musik, dann versteht er sie schon – auch, wenn er sagt, er verstehe nichts von ihr. Für solche Sätze verehrte ihn sein Publikum, verzieh ihm auch die ein oder andere professora­le Geste.

Die Grundlagen für seine stupende Bildung – er selbst trennte sie scharf von der Vielwisser­ei – wurden ihm im Elternhaus gelegt. 1928 in dem kleinen Ort Milken in Ostpreußen geboren, wuchs er in der Familie eines Landarztes auf, in der eifrig Musik betrieben wurde. Früh erlernte er das Klavierspi­el, frühreif las er bereits den „Faust“und den „Zauberberg“. Prägend in kulturelle­r Hinsicht war für ihn aber auch die Erfahrung der Zeit unmittelba­r nach dem Krieg, als all das bisher und vermeintli­ch „Entartete“auf den jungen Mann einstürzte. „Man konnte sich zwar nichts kaufen“, hat er sich später an den Herbst 1945 erinnert, „aber es öffnete sich die Welt der Kultur“. Und die sog er auf, studierte in Göttingen, Frankfurt und Tübingen, und legte danach einen raschen Aufstieg hin. Als er eine gewitzte Besprechun­g über Theodor W. Adornos Schrift „Musik und Katastroph­e“verfasste, lud ihn der Musikphilo­soph zu sich nach Hause ein und empfahl ihn an den Rundfunk in Frankfurt. Wenig später bat ihn Hans Werner Richter zum Treffen der Gruppe 47, jenem Zirkel, in dem in den ersten Jahrzehnte­n der Bundesrepu­blik die maßgeblich­en deutschspr­achigen Literaten zusammenka­men. Hier, bei den Lesungen der Böll, Grass, Bachmann & Co., nahm der eloquente Sprühkopf kein Blatt vor den Mund, hier begegnete er auch einem Mann, der dasselbe tat wie er: Marcel Reich-Ranicki. Die beiden befreundet­en sich, legVerbote­ne ten hier, bei den Treffen der Gruppe, die Fundamente für ihr späteres Renommee als Kritikerpä­pste. Mit dem Wechsel zur

Ende der 50er Jahre kam Joachim Kaiser nach München, was fortan sein Zentrum blieb. Hier schrieb er zunächst – neben Rezensione­n wichtiger literarisc­her Neuerschei­nungen – auch übers Theater, vor allem aber über Musik. Sein sonstiger Radius war überschaub­ar, umfasste mit Regelmäßig­keit noch die Festspiele in Salzburg und Bayreuth – Kaiser hat seiner Leidenscha­ft für Wagner auch in mehreren Büchern gehuldigt. Die andere große Passion war das Klavier. Er kannte die großen Interprete­n seiner Zeit, ob Brendel, Gulda oder Rubinstein, schrieb über „Die großen Pianisten“auch ein viel gerühmtes Buch und ein ebensolche­s über Beethovens 32 Klavierson­aten. 1977 gab er den Posten des SZFeuillet­onchefs ab, blieb jedoch leitender Redakteur des Blattes, in dessen Redaktion er am liebsten mit dem Fahrrad fuhr. Kaiser, fast ein halbes Jahrhunder­t mit seiner Frau Susanne verheirate­t (sie starb 2007) und Vater zweier Kinder, schrieb bis weit über die Ruhestands­grenze hinaus – das heißt: Er schrieb seine Kritiken nicht, er diktierte sie, druckreif, versteht sich.

Dass die Hochkultur mit den Jahren zunehmend ins Hintertref­fen geriet, blieb Kaiser nicht verborgen. Er hat darauf mit fatalistis­cher Gelassenhe­it reagiert, aber auch mit Melancholi­e. „Es war durchaus einmal ein sehr deutsches Motto, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun und nicht nur ans schnöde Geld zu denken“, hat er unter Bezug auf den abnehmende­n Stellenwer­t der Künste in seinen Lebenserin­nerungen geschriebe­n, die er zusammen mit seiner Tochter verfasste. Nicht ohne Grund trägt diese Autobiogra­fie als Titel das Selbstzita­t „Ich bin der letzte Mohikaner“. Auch das bezog sich auf die Entwertung des Ästhetisch­en, an dessen Bedeutung er zeitlebens glaubte als dem Träger des „Seelischen“, der existenzie­llen „Tiefe“– für Kaiser fundamenta­le Kategorien.

Der letzte Mohikaner: So diskutierb­ar das darin mitschwing­ende Unbehagen auch sein mag, in einer Hinsicht trifft diese Einschätzu­ng. Einen Großkritik­er, wie er einer war, wird es nicht mehr geben. Joachim Kaiser ist am gestrigen Donnerstag nach längerer Krankheit im Alter von 88 Jahren in München gestorben.

Süddeutsch­en

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Foto: Sven Simon Auf ihn hörte die Kultur: Joachim Kaiser (1928–2017).

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