Wenn Motoren mehr zählen als Menschenleben
Bericht Die erste Fahrt des Landsbergers Claus-Peter Reisch als Kapitän des Flüchtlingshilfsschiffes „Sea Eye“ist beendet. Jetzt ist er zurück und schildert dem LT seine Erfahrungen
Landsberg Es war Freitag, der 28. April, also vor knapp zwei Wochen. Der Landsberger Claus-Peter Reisch stand als Kapitän auf der Brücke des ehemaligen Fischkutters „Sea Eye“mit noch sieben weiteren Personen im Mittelmeer vor der libyschen Küste unterwegs. Ziel und Aufgabe des Hilfsschiffes: die Rettung von Schiffbrüchigen und akute Unterstützungen von Flüchtlingen in Not.
Bislang hatte es noch keinen Kontakt gegeben, doch dann kam der Anruf des Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC), der Rettungsleitstelle in Rom (Italien). Claus-Peter Reisch sollte einen Auftrag übernehmen, da ein weiteres Rettungsschiff, die „Aquarius“, noch zu weit entfernt war. Der Auftrag, das bedeutete, zwei Flüchtlingsboote mit 147 Personen, darunter neun Frauen und neun Kinder, zu sichern, bis die „Aquarius“eintreffen wird. Denn die „Sea Eye“, für eine Mannschaft mit acht Personen ausgelegt, sichert lediglich Schiffbrüchige, die „Aquarius“(Hilfsorganisation SOS-Méditerranée) kann dagegen bis zu 500 Personen an Bord nehmen.
Der Anblick, der sich der Crew vor Ort bot, lässt Reisch auch heute noch nicht los: „Die Menschen in den beiden Holzbooten waren erst einen halben Tag auf dem Wasser, aber zum großen Teil völlig apathisch.“Die Helfer packten Schwimmwesten in einen großen Transportsack, schafften ihn so schnell wie möglich samt Mineralwasser ins Schnellboot und fuhren zu den Flüchtlingsbooten.
Nur wenig später traf auch die „Iuventa“, das Schiff der Hilfsorganisation „Jugend rettet“, zur Unterstützung ein und übernahm die Sicherung eines der Holzboote. Die relativ neuen Holzboote, die mit einem kleinen Außenbordmotor bestückt waren, hätten auf den ersten Blick nicht sonderlich überladen ausgesehen, berichtet Claus-Peter Reisch dem doch dann die Überraschung: Unter Deck waren ebenfalls Flüchtlinge eingepfercht, ausnahmslos in schlechtem gesundheitlichen Zustand. „Die Menschen waren völlig fertig, seekrank und
LT,
sich ständig.“Insgesamt hatten sich 147 Flüchtlinge in den Holzbooten auf die Überfahrt begeben, nicht wissend, ob sie die Seereise lebend überstehen werden. Wie von Geisterhand, die Sicht betrug knapp 1200 Meter, tauchte plötzlich ein Schnellboot der libyschen Küstenwache auf – doch nicht etwa, um sich an der Rettungsaktion zu beteiligen. „Die waren sehr freundlich, doch die hatten es nur auf die Au- ßenbordmotoren abgesehen.“Die montierten sie ab und konfiszierten sie. „Wo die abblieben? Keine Ahnung.“
Inzwischen war auch die „Aquarius“eingetroffen und nahm die Flüchtlinge an Bord. Rettungsaktion also abgeschlossen, und auch die Küstenwache wollte sich entfernen. Doch Claus-Peter Reisch hatte dagegen etwas einzuwenden: „Ich hab’ darauf bestanden, dass sie die Holzübergaben boote verbrannten.“Hätten sie das nicht getan, wäre der Landsberger selbst tätig geworden. Das werde so gemacht, um eine Wiederverwendung der Boote zu verhindern. Schlauchboote würden aufgeschlitzt und versenkt. Die Holzboote hatten nicht einmal Klampen (Klammern zum Befestigen von Leinen), um in einem Hafen angebunden zu werden. Dieses menschenverachtende Vorgehen der Schlepper ist es, das Claus-Peter Reisch antreibt: „Wir können die Menschen dort im Meer doch nicht absaufen lassen.“Dass das dennoch jederzeit passiert, musste er im Anschluss an den Einsatz erleben. Erneut gab es einen Anruf des MRCC, als Reisch und seine Crew gerade dabei waren, die Rettungswesten wieder aufzunehmen. Ein sinkendes Schlauchboot wurde zwölf Seemeilen von der „Sea Eye“entfernt gesichtet. „Als wir eineinhalb Stunden später dort ankamen, war von einem Schlauchboot nichts mehr zu sehen.“Allerdings trieb eine Leiche im Wasser, die sich schon länger dort befunden haben musste. Der Korpus war so aufgedunsen, dass niemand mehr feststellen konnte, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.
Reisch entschied nach Rücksprache mit dem MRCC, davon abzusehen, den Körper an Bord zu nehmen, um das Risiko einer Seuche zu vermeiden: „Obwohl wir natürlich auch Leichensäcke an Bord mitführten.“Er dokumentierte lediglich Uhrzeit, Standort und Datum des Auffindens. Zwölf Stunden später, so erfuhr Reisch, hätte ein anderes Schiff weitere Leichen gefunden.
Vorwürfe, wie jüngst von dem italienischen Staatsanwalt Carmelo Zuccaro geäußert, die Hilfsschiffe stünden in direktem Telefon- und Livekontakt mit Schleusern, weist er entrüstet zurück: „Wir telefonieren und handeln nur auf Anweisung des MRCC.“Daher habe er sich den Einsatz am 28. April zum Beispiel zusätzlich noch per E-Mail bestätigen lassen. Michael Buschheuer, Gründer der Regensburger Hilfsorganisation „Sea-Eye“, nennt die Vorwürfe „an Absurdität nicht mehr zu übertreffen.“
Claus-Peter Reisch ist inzwischen nach Landsberg zurückgekehrt und bereitet sich schon auf seinen nächsten Einsatz Ende August vor: „Anschließend gehe ich noch einmal im Oktober an Bord.“Ab morgen hat übrigens erneut ein Landkreisbürger das Kommando. Hans Rieß aus Dießen fährt für die Hilfsorganisation vor der libyschen Küste – als Kapitän des „Seefuchs“, dem neuen Schwesterschiff der „Sea Eye“.