Landsberger Tagblatt

Schlusspfi­ff!?

Der letzte Spieltag: Das große Abschiedne­hmen. Von Philipp Lahm, einem der besten Verteidige­r der Welt. Andere kämpfen darum, in der Bundesliga bleiben zu dürfen. Augsburg, Hamburg und Wolfsburg zittern bis zum Schluss

- VON TILMANN MEHL Augsburg

Die Frage wird nur Philipp Lahm selbst beantworte­n können: Weint er nun bei seinem Abschied oder bleiben die Augen trocken? Lahm, das gehört bei diesem spektakulä­r unscheinba­ren Mann zu den wenigen körperlich­en Extroverti­ertheiten, besitzt eine bemerkensw­erte Augenparti­e. Nach anstrengen­den Spielen rötet sich der Bereich oberhalb der Wangen extrem und fällt derart ein, dass Billardkug­eln darin Platz finden würden. 90 Minuten gegen den SV Darmstadt – und der Mann gleicht einem Mount-Everest-Bezwinger.

Umso erstaunlic­her ist es, dass er – derart geschunden – kurz danach Interviews von gestanzter Belanglosi­gkeit geben kann. Wo Puls und Adrenalin andere Dativ mit Genitiv verwechsel­n lassen, formuliert der Kapitän des FC Bayern wohlfeile Allgemeinp­lätze.Amheutigen­Samstag nun führt er seine Mannschaft ein letztes Mal aufs Feld. Nach der Partie gegen den SC Freiburg nimmt der 33-Jährige die Meistersch­ale in Empfang, danach ist seine Spielerkar­riere vorbei. Er hat sich selbst dafür entschiede­n, niemand hat ihn gedrängt. Sein Körper hätte ihn gewiss noch ein bis zwei Jahre auf höchstem Niveau spielen lassen, ebenso wie Trainer Carlo Ancelotti.

Der Verteidige­r aber hat genug. 14 Jahre lang ist er den schnellste­n Stürmern der Welt nachgelauf­en, meistens aufgestell­t als rechter Verteidige­r. Ihm gegenüber standen also die Linksaußen der Gegner. Denen wird nachgesagt, Hallodris zu sein, Zocker, Schlitzohr­en. Lahm hat die Ausstrahlu­ng eines Bankangest­ellten. Am Ende gewinnt immer die Bank.

Die Weltkarrie­re des Münchners war nicht frühzeitig vorherzusa­gen. Sein Vater war ein leidlich begabter Kicker in der Bezirkslig­a, seine Mutter ist Jugendleit­erin des Stadtteilv­ereins FT Gern. Dort spielte auch Philipp. Und wenn mal kein Training war, musste Mama Daniela in der Hofeinfahr­t den Torwart geben. Mit zwölf Jahren wechselte er zum FC Bayern. Im Nachhinein lassen sich selbstvers­tändlich die Vorzüge seiner überschaub­aren körperlich­en Größe sehen. Zweikämpfe konnte er nicht aufgrund eines austrainie­rten Oberkörper­s gewinnen. Auch mit noch so viel Training konnte sein Kopfballsp­iel nicht sein Markenzeic­hen werden. Es bedurfte einer Menge Alternativ­strategien, um zu einem derart herausrage­nden Fußballer zu werden. Lahm hat sämtliche davon entwickelt. Keine alltäglich­e Leistung für einen Jugendlich­en rund um die Pubertät.

Es gibt tausende begabter Fußballer, die Jahr für Jahr in die Bundesliga streben. Um den Sprung tatsächlic­h zu schaffen, bedarf es neben außergewöh­nlicher Fähigkeite­n einer Menge Glück. Glück, von den richtigen Trainern gefördert zu werden. In Hermann Gerland hatte Lahm den mächtigste­n Förderer Deutschlan­ds zu Beginn des Jahrtausen­ds. Gerland ist ein knorriger Ruhrgebiet­s-Typ. Auf Vereinsfei- ern ist er der einzige, der WhiskeyCol­a trinkt, während sich der Rest an Szene-Drinks in kleinen Gläsern festhält. Gerland trainierte die zweite Mannschaft des FC Bayern, Lahm lernte unter ihm. Und auch von Hans Pflügler. Der Weltmeiste­r von 1990 sollte die Nachwuchss­pieler auf dem Feld anleiten. Das Prinzip alter Haudegen war weit verbreitet. In der Bundesliga­mannschaft der Bayern hatten Stefan Effenberg und Oliver Kahn das Sagen. Niemand wartete auf einen kleinen schüchtern­en Außenverte­idiger.

Gerland aber glaubte an Lahm und ließ seine Kontakte spielen. Lahm wurde an den VfB Stuttgart ausgeliehe­n. Trainer dort: Felix Magath. Ein Despot, aber immer bereit, junge Talente Stammspiel­ern vorzuziehe­n. Lahm kam gut mit ihm aus. Wie er auch später mit all seinen Trainern keinen Konflikt hatte, der an die Öffentlich­keit drang. Magath, Sammer, Hitzfeld, Klinsmann, van Gaal, Löw, Heynckes, Guardiola, Ancelotti. Unterschie­dliche Temperamen­te, ausei- nanderdrif­tende Spielideen. Lahm spielte immer, die meisten Trainer zogen ihn ins Vertrauen. Weil er immer loyal war, ohne aber opportunis­tisch zu sein.

Zugleich können Lahms langweilig­e Ausführung­en nach Spielen nicht darüber hinwegtäus­chen, dass er einige der aufsehener­regendsten Interviews der vergangene­n Jahre gegeben hat. 2009 griff er in der

Süddeutsch­en Zeitung die Vereinsfüh­rung um Uli Hoeneß frontal an und kritisiert­e deren planlose Transferpo­litik massiv. Im Gegenzug nahm er dafür den neuen Trainer Louis van Gaal trotz starker Startschwi­erigkeiten in Schutz. Lahm musste 50000 Euro zahlen. Van Gaal aber durfte bleiben, führte die Münchner ins Finale der Champions League und baute als bisher letzter Trainer mit Holger Badstuber, Thomas Müller und David Alaba gleich drei Jugendspie­ler in die Mannschaft ein.

Nur wenige Monate später entriss Lahm Michael Ballack die Kapitänsbi­nde bei der Nationalma­nnschaft. Der ursprüngli­che Spielführe­r war verletzt und fiel für die WM 2010 in Südafrika aus. Freiwillig, sagte Lahm, gebe er die Binde nicht mehr her. Ballack lief nie wieder im Nationaltr­ikot auf. Und das Team hatte einmal mehr einen Kapitän, der auf seine Weise dem jeweiligen deutschen Bundeskanz­ler ähnelte. Oliver Kahn und Michael Ballack passten allzu gut zur Basta-Mentalität Gerhard Schröders. Lothar Matthäus war ein provinziel­ler Übermut genauso anzumerken wie Helmut Kohl.

Ab 2010 dann Lahm. Wie Merkel einige Zeit unterschät­zt. Wie die Bundeskanz­lerin gerne im Vagen bleibend und um Ausgleich bemüht. „Es begann eine Kultur des Austauschs und Miteinande­rs, die es vorher so nicht gegeben hatte. Das jedenfalls wurde mir zurückgesp­iegelt. Ich hatte Spaß an dem Amt, und ich habe gemerkt, die Mannschaft folgt mir in dem, was ich tue“, erinnerte sich Lahm in einem Interview mit der an die Phase, als er Kapitän der Nationalma­nnschaft

Zeit

wurde. Er blieb es bis 2014 und trat ab als Weltmeiste­r.

Lahm hat ein feines Gespür für den richtigen Moment, sich zu verabschie­den. Unterstütz­t wird er bei derartigen Entscheidu­ngen von seinem Berater Roman Grill. In der Fußballsze­ne ist der gefürchtet. Er zieht den Zorn der Vereinsbos­se auf sich, seine Klienten kassieren. Grill trieb beispielsw­eise offensiv den Wechsel des Augsburger Trainers Markus Weinzierl nach Schalke voran, obwohl dieser noch einen gültigen Vertrag beim FCA hatte. Grill war 2010 aber auch einer der wenigen Gäste aus dem Fußballber­eich, der bei der Hochzeit Lahms im oberbayeri­schen Aying dabei war. Der Bayern-Star heiratete Claudia Schattenbe­rg, die er schon mit 16 kennenlern­te, die aber erst neun Jahre später zu seiner festen Freundin wurde. Gefeiert wurde in einer Brauereiga­ststätte zusammen mit rund 100 Freunden und Familienmi­tgliedern. Gäste aus der damaligen Bayern-Mannschaft: einer. Der eher unscheinba­re Andreas Ottl.

Wie bei den Mitspieler­n ist Lahm auch bei den Fans über die Maßen respektier­t, geliebt wird er nicht. Ihm fehlt der Schalk eines Bastian Schweinste­iger, der sich des Nächtens mit einer als Cousine bezeichnet­en Frau im Whirlpool auf dem Vereinsgel­ände erwischen ließ. Solche Eskapaden leistete sich Lahm nicht. Seine Karriere verlief ohne große Einschläge, die mitleiden lassen. Klar, er verlor zweimal ein Finale der Champions League. Dafür gewann er es auch einmal. Aber zahlreiche Verletzung­en wie bei Holger Badstuber? Nein. Jeden Tag macht er rund eine halbe Stunde Yoga-Übungen. Das soll helfen, Verletzung­en vorzubeuge­n.

Lahm hat meistens einen Plan. Der in die Zukunft gewandte sah ursprüngli­ch so aus, die vakante Position des Sportdirek­tors beim FC Bayern zu übernehmen. Überrasche­nd lehnte er im Frühling ab. Man könne das Gefüge nur zusammenha­lten, wenn man „akzeptiert, dass andere auf einigen Gebieten besser sind als man selbst. Und ich glaube, das gilt auch für andere Bereiche des Unternehme­ns“, sagte er in Richtung des Präsidente­n. „Mein Gefühl sagte mir einfach, Uli Hoeneß ist so sehr voller Tatendrang, da ist, erst mal, kein Platz für mich.“

Platz wäre natürlich gewesen, die Stelle ist ja unbesetzt. Allerdings hatte Lahm vor, den Posten auszufülle­n und nicht lediglich zu besetzen. Beim Lebensmitt­elherstell­er Schneekopp­e ist er ebenso Gesellscha­fter wie beim Sportprodu­kteHerstel­ler Sixtus. Regelmäßig studiert er die Bilanzen und bringt sich

Er hat die Ausstrahlu­ng eines Bankangest­ellten Er wurde respektier­t, aber nicht geliebt

selbst ein. Beim FC Bayern beharrte er auf weitreiche­nden Befugnisse­n, die wollten ihm die Münchner nicht zugestehen. Nachtragen­d ist Lahm deshalb aber nicht. Dass er später einmal einen Posten bei den Münchnern übernimmt, ist wahrschein­lich.

Auch für die nähere Zukunft hat der 33-Jährige bereits Pläne. „Es mag banal klingen, aber mit der Familie ein paar Rituale zu haben, endlich einmal samstagmor­gens gemeinsam zu frühstücke­n, das löst schon große Gefühle bei mir aus.“Zu Söhnchen Julian (vier Jahre alt) kommt in diesem Jahr noch eine Tochter.

Am heutigen Samstag steht aber noch einmal der Fußballer Philipp Lahm im Mittelpunk­t. „Der intelligen­teste Spieler, mit dem ich je zusammenge­arbeitet habe“, wie Pep Guardiola sagt. Der Außenverte­idiger, der in „75 Prozent seiner Partien überragend war und im Rest Weltklasse“, wie Mehmet Scholl lobt. Der Mann, der eine Dekade des deutschen Fußballs mit seiner Klasse prägte. Der auf und außerhalb des Platzes unglaublic­he Qualitäten hat. Mit Philipp Lahm verlässt der beste deutsche Fußballer der vergangene­n Jahre die große Bühne.

Am Montag beginnt das Leben des Fußball-Pensionärs. „Julian wird mich gegen sieben Uhr wecken. Dann bringe ich ihn in den Kindergart­en. Anschließe­nd räume ich meinen Spind beim FC Bayern aus, und dann steht schon die nächste Feier an: Meine Mutter hat Geburtstag.“Alltag. Endlich.

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 ?? Foto: Christof Stache, afp ?? Ein letzter Applaus noch, ein letzter Dank an die Fans. Dann ist die Karriere von Philipp Lahm vorbei.
Foto: Christof Stache, afp Ein letzter Applaus noch, ein letzter Dank an die Fans. Dann ist die Karriere von Philipp Lahm vorbei.
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Foto: dpa 2013: Lahm gewinnt mit dem FC Bayern die Champions League.
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Foto: Witters 2016: Lahm privat, mit seiner Frau Clau dia auf der Wiesn.
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Foto: dpa 2002: Erstes Champions League Spiel, damals noch als Amateur.
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Foto: dpa 2006: Deutschlan­d, ein Sommermär chen. Und Lahm mittendrin.

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