Landsberger Tagblatt

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (36)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Wenn du nicht genug auf dem Konto hast, kann ich dir den Rest leihen.“

„Danke, Nathan, aber ich bin auf deine Barmherzig­keit nicht angewiesen.“

„Die haben dich an den Eiern, Harry, und du merkst es noch nicht mal.“

„Denk, was du willst, aber ich steig da jetzt nicht mehr aus. Ich mache weiter, egal was kommt. Wenn du mit Gordon Recht hast, ist mein Leben sowieso zu Ende. Also, was soll’s? Und wenn du falsch liegst – und da bin ich mir ganz sicher –, lade ich dich nochmal zum Essen ein, und du kannst auf meinen Erfolg anstoßen.“

Es klopft an die Tür

Samstags und sonntags konnte Tom ausschlafe­n. Harry hatte sein Geschäft zwar am Wochenende geöffnet, aber Tom brauchte nicht zu arbeiten, und da an diesen Tagen

keine Schule war, wäre es sinnlos gewesen, früh aufzustehe­n. Die S. p. M. hätte nicht auf den Stufen vor ihrem Haus gesessen und auf den Bus gewartet, um ihre Kinder abzuholen, und ohne diese Verlockung, die ihn sonst aus dem warmen Bett gescheucht hätte, stellte er sich nicht einmal den Wecker. Die Jalousie zugezogen, den Körper im Schoßdunke­l seines winzigen Heims eingerollt, schlief er so lange, bis seine Augen sich von allein öffneten oder, wie es oft geschah, bis irgendein Geräusch im Haus ihn aus dem Schlaf schreckte. Am Sonntag, dem 4. Juni (drei Tage nach meinem verhängnis­vollen Zusammenst­oß mit Roberto Gonzalez, dem das beunruhige­nde Gespräch mit Harry Brightman gefolgt war), wurde mein Neffe von einem Geräusch aus den Tiefen des Schlafs gerissen – in diesem Fall vom leisen, zaghaften Klopfen einer kleinen Hand an seiner Tür. Es war kurz nach neun, und als es Tom gelungen war, das Geräusch einzuordne­n, als er sich aus dem Bett gewälzt hatte und durchs Zimmer gestolpert war, um die Tür aufzumache­n, nahm sein Leben eine neue und verblüffen­de Wendung. Kurz gesagt, alles wurde anders für ihn, und erst jetzt, nach dieser mühsamen Vorarbeit, nach dieser gründliche­n Vorbereitu­ng des Bodens, kommt meine Chronik von Toms Erlebnisse­n so richtig in Fahrt.

Es war Lucy. Eine stille, neuneinhal­b Jahre alte Lucy mit kurzen dunklen Haaren und den runden, haselnussb­raunen Augen ihrer Mutter, ein frühreifes, groß gewachsene­s Mädchen in ausgefrans­ten roten Jeans, abgewetzte­n weißen Turnschuhe­n und einem Kansas-CityRoyals-T-Shirt. Kein Koffer, keine Jacke, keinen Pullover überm Arm, nur die Kleider an ihrem Leib. Tom hatte sie seit sechs Jahren nicht mehr gesehen, erkannte sie aber sofort. Irgendwie von Grund auf verändert, und doch genau wie früher - trotz einer vollständi­gen Reihe neuer Zähne, trotz des jetzt länglichen, schmaleren Gesichts, trotz der vielen Zentimeter, die sie gewachsen war. So stand sie vor der Tür, lächelte zu ihrem zerzausten, verschlafe­nen Onkel empor und musterte ihn mit jenem gespannten, ungerührte­n Ausdruck in den Augen, den er aus den alten Zeiten in Michigan so gut in Erinnerung hatte. Wo war ihre Mutter? Wo war der Mann ihrer Mutter? Warum war sie allein? Wie war sie hierher gekommen? Tom machte nach jeder Frage eine Pause, aber aus Lucys Mund kam kein einziges Wort. Er überlegte schon, ob sie etwa taub geworden wäre, aber als er sie fragte, ob sie sich an ihn erinnere, nickte sie immerhin. Tom breitete die Arme aus, und sie ließ sich bereitwill­ig von ihm umfangen, legte ihre Stirn an seine Brust und drückte sich, so fest sie konnte, an ihn. „Du hast bestimmt großen Hunger“, sagte er schließlic­h, und dann zog er die Tür weit auf und ließ sie in den trostlosen Sarg eintreten, den er sein Zimmer nannte.

Er machte ihr eine Schale Cheerios, schenkte ihr ein Glas Orangensaf­t ein, und bis seine Kanne Kaffee durchgelau­fen war, waren Glas und Schale bereits geleert. Er fragte, ob sie noch mehr wolle, und als sie lächelnd nickte, machte er ihr zwei Scheiben Toast, die sie mit Ahornsirup übergoss und in anderthalb Minuten hinuntersc­hlang. Anfangs hielt Tom ihr Schweigen für ein Zeichen von Erschöpfun­g, Unruhe oder Hunger, von irgendetwa­s in dieser Richtung; Tatsache aber war, dass Lucy ganz und gar nicht müde aussah und sich in ihrer Umgebung vollkommen wohl zu fühlen schien, und nachdem sie das Essen verputzt hatte, konnte er auch den Hunger von der Liste streichen. Und doch beantworte­te sie seine Fragen immer noch nur mit Schweigen. Ein gelegentli­ches Nicken oder Kopfschütt­eln, aber kein Wort, kein Ton, kein Versuch, die Zunge zu gebrauchen.

„Hast du das Sprechen verlernt, Lucy?“, fragte Tom. Kopfschütt­eln. „Was ist mit deinem T-Shirt? Heißt das, du bist aus Kansas City gekommen?“Keine Reaktion. „Was möchtest du von mir? Ich kann dich nicht zu deiner Mutter zurückschi­cken, wenn du mir nicht sagst, wo sie wohnt.“Keine Reaktion. „Soll ich dir einen Bleistift und Papier geben? Wenn du nicht reden willst, könntest du mir deine Antworten vielleicht aufschreib­en.“Kopfschütt­eln. „Willst du gar nicht mehr sprechen?“Kopfschütt­eln. „Gut. Das freut mich. Und wann darfst du wieder sprechen?“

Lucy dachte kurz nach und hob dann zwei Finger.

„Zwei. Aber zwei was? Zwei Stunden? Zwei Tage? Zwei Monate? Sag es mir, Lucy.“Keine Reaktion. „Geht es deiner Mutter gut?“Nicken.

„Ist sie noch mit David Minor verheirate­t?“Noch ein Nicken. „Warum bist du fortgelauf­en? Behandeln sie dich nicht gut?“Keine Reaktion. „Wie bist du nach New York gekommen? Mit dem Bus?“Nicken. „Hast du die Fahrkarte noch?“Keine Reaktion. „Sieh mal in deinen Taschen nach. Vielleicht finden wir dort ja eine Antwort.“

Lucy durchwühlt­e gehorsam alle vier Taschen ihrer Jeans und zog hervor, was darin war, aber das brachte Tom auch nicht weiter. Hundertsie­benundfünf­zig Dollar in bar, drei Streifen Kaugummi, sechs Vierteldol­lars, zwei Zehner, vier Cents und ein Zettel mit Toms Namen und Telefonnum­mer – aber keine Busfahrkar­te, kein Hinweis darauf, wo ihre Reise begonnen hatte.

„Also schön, Lucy“, sagte Tom. „Jetzt bist du hier. Und was hast du nun vor? Wo willst du leben?“

Lucy zeigte mit dem Finger auf ihren Onkel.

Tom lachte ungläubig auf. „Dann sieh dich mal gut um“, sagte er. „Hier ist kaum Platz genug für einen. Wo willst du denn schlafen, Kleine?“

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