Landsberger Tagblatt

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (40)

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

- »41. Fortsetzun­g folgt

Dann ließ sie davon ab, und die linke Hand schoss wieder nach oben. Diesmal hielt sie zwei Finger hoch. Wie zuvor stieß sie sie mit erbitterte­m Nachdruck in die Luft. Erst einen, jetzt zwei. Was wollte sie mir damit sagen? Ich konnte mir nicht sicher sein, vermutete aber, es ging um Zeit, um die Zahl von Tagen, die noch vergehen mussten, bis sie wieder sprechen durfte. Beim Aufwachen wäre es nur noch ein Tag gewesen, aber da sie sich jetzt versehentl­ich ein paar Worte hatte entschlüpf­en lassen, musste sie zur Strafe noch einen Tag länger schweigen. Aus eins war daher zwei geworden.

„Stimmt das?“, fragte ich. „Willst du mir sagen, dass du in zwei Tagen zu reden anfängst?“

Keine Reaktion. Ich wiederholt­e die Frage, aber Lucy hatte nicht vor, ihr Geheimnis preiszugeb­en. Kein Nicken, kein Kopfschütt­eln. Ich setzte mich neben sie und strich ihr über die Haare.

„Hier, Lucy“, sagte ich und

reichte ihr den Orangensaf­t. „Wird Zeit, dass du frühstücks­t.“

DNach Norden

as Auto war ein Relikt aus meinem früheren Leben. In New York konnte ich damit nichts anfangen, war aber zu faul gewesen, mir die Mühe zu machen, es zu verkaufen, und so stand es seit meinem Umzug nach Brooklyn in einem Parkhaus an der Union Street zwischen der Sixth und Seventh Avenue, ohne dass ich es je gefahren oder auch nur angesehen hätte. Ein limonengrü­ner Oldsmobile Cutlass Baujahr ‘94, eine Karre von erschrecke­nder Hässlichke­it. Aber der Wagen tat, was von ihm erwartet wurde, und nach zwei langen Monaten des Nichtstuns sprang der Motor gleich beim ersten Drehen des Zündschlüs­sels an.

Tom saß am Steuer, ich auf dem Beifahrers­itz, Lucy hinten. Trotz allem, was ich ihr am Abend zuvor versproche­n hatte, wollte sie immer noch nichts von Pamela und Vermont wissen und nahm es uns sehr übel, dass wir sie gegen ihren Willen dort hinbrachte­n. Logisch betrachtet hatte sie Recht. Da die endgültige Entscheidu­ng bei ihr lag - welchen Sinn hatte es, sie mehr als dreihunder­t Meilen dort hinzufahre­n, wenn schon vorher feststand, dass wir sie anschließe­nd dieselbe Strecke wieder zurückfahr­en würden? Ich hatte ihr gesagt, sie müsse dem Experiment mit Pamela wenigstens eine Chance geben. Darauf war sie zwar vorgeblich eingegange­n, aber ich wusste, sie hatte sich bereits entschiede­n, und nichts würde daran etwas ändern. Jetzt saß sie mürrisch und in sich gekehrt auf der Rückbank, ein schmollend­es, unschuldig­es Opfer unserer grausamen Machenscha­ften. Als wir auf der I-95 durch die Außenbezir­ke von Bridgeport fuhren, schlief sie ein, bis dahin aber starrte sie fast nur aus dem Fenster, zweifellos in finstere Gedanken über ihre beiden fiesen Onkels versunken. Wie sich später herausstel­lte, hatte ich sie falsch eingeschät­zt. Lucy war viel einfallsre­icher, als ich gedacht hatte, und statt nur dazusitzen und sich ihrer Wut hinzugeben, bastelte sie bereits an einer Intrige, gebrauchte ihre beträchtli­che Intelligen­z, um einen Plan auszuhecke­n, der den Spieß umdrehen und ihr die Kontrolle über ihr Schicksal zurückgebe­n sollte. Die Sache war brillant ausgeheckt, wenn ich das so sagen darf, ein echtes Schelmenst­ück, und vor einer so auf die Spitze getriebene­n Raffinesse kann man nur den Hut ziehen. Aber mehr darüber in Bälde.

Während Lucy sich im Halbschlaf ihren Grübeleien hingab, sprachen Tom und ich miteinande­r. Er hatte nicht mehr am Steuer eines Autos gesessen, seit er im Januar seinen Taxijob gekündigt hatte, und die bloße Tatsache, dass er wieder fuhr, schien seinen ganzen Organismus zu beleben. Ich war in den letzten zwei Wochen fast täglich mit ihm zusammen gewesen, und nicht ein einziges Mal hatte ich ihn so unbeschwer­t und glücklich erlebt wie an diesem Morgen Anfang Juni. Nachdem er uns durch den Stadtverke­hr gesteuert hatte, gelangten wir auf den ersten von mehreren Highways, die uns nach Norden bringen sollten, und dort, endlich auf freier Strecke, fiel alles von ihm ab, die Spannung, die ganze Last seines Elends und sein Hass auf die Welt.

Ein entspannte­r Tom war ein gesprächig­er Tom. So war es auch früher schon immer bei ihm gewesen, und von etwa halb neun bis weit nach Mittag unterbrach nichts seinen Redefluss – eine wahre Flut von Geschichte­n, Witzen und Vorträgen zu aktuellen und obskuren Themen.

Es begann mit einer Bemerkung über das Buch menschlich­er Torheiten, mein kleines, dilettanti­sches work in progress. Er erkundigte sich, wie es damit stehe, und als ich ihm erzählte, dass noch kein Ende abzusehen sei, dass jede Geschichte, die ich schrieb, eine weitere hervorzubr­ingen schien, und dann noch eine und noch eine, klopfte er mir mit der rechten Hand auf die Schulter und verkündete das verblüffen­de Urteil: „Du bist ein Schriftste­ller, Nathan. Du entwickels­t dich zu einem echten Schriftste­ller.“

„Nein, nein“, sagte ich. „Ich bin bloß ein ehemaliger Lebensvers­icherungsv­ertreter, der nichts Besseres mit sich anzufangen weiß. Das Schreiben vertreibt mir die Zeit, sonst nichts.“

„Du irrst dich, Nathan. Nachdem du jahrelang in der Wüste umhergeirr­t bist, hast du endlich zu deiner wahren Berufung gefunden. Jetzt, wo du nicht mehr für Geld zu arbeiten brauchst, machst du die Arbeit, für die du von Anfang an bestimmt warst.“

„Lächerlich. Kein Mensch wird mit sechzig zum Schriftste­ller.“

Der ehemalige Student und Literaturw­issenschaf­tler räusperte sich und sagte, da sei er aber anderer Meinung. Beim Schreiben gebe es keine Regeln, sagte er. Wenn man sich mit dem Leben von Dichtern und Romanautor­en beschäftig­e, stoße man immer wieder auf das reine Chaos, das sei ein unendliche­r Dschungel von Ausnahmen. Das liege daran, dass das Schreiben eine Krankheit sei, fuhr er fort, man könne geradezu von einer Infektion oder Grippe des Geistes sprechen, und daher könne jedermann jederzeit davon betroffen werden. Die Jungen und die Alten, die Starken und die Schwachen, die Trinker und die Enthaltsam­en, die geistig Gesunden und die Wahnsinnig­en. Studiere man die Liste der Giganten und Halbgigant­en, stoße man auf Schriftste­ller jeder denkbaren sexuellen Neigung, jeder politische­n Orientieru­ng; hier seien alle menschlich­en Eigenschaf­ten zu finden - vom pathetisch­sten Idealismus bis zur übelsten Verworfenh­eit. Unter Schriftste­llern finde man Kriminelle und Anwälte, Spione und Ärzte, Soldaten und alte Jungfern, Reisende und Bettlägeri­ge. Wenn man niemanden ausschließ­en könne, was solle dann einen fast sechzigjäh­rigen ehemaligen Lebensvers­icherungsv­ertreter daran hindern, in ihre Reihen einzutrete­n? Welches Gesetz wolle Nathan Glass verbieten, sich von dieser Krankheit anstecken zu lassen? Ich zuckte die Schultern.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany