Landsberger Tagblatt

„Goodbye, ich werde es nicht schaffen“

Die Geschichte­n, wie die Menschen im Londoner Grenfell Tower starben, sind kaum zu ertragen. In die Trauer mischt sich nun Wut. Denn die Bewohner haben mehrmals vor Brandrisik­en in dem Gebäude gewarnt. Warum die Ermittlung­en Wochen dauern werden

- VON KATRIN PRIBYL Foto: Guilhelm Baker, Imago (mit dpa, afp)

London In all den Trümmern, der Asche und Verzweiflu­ng wirkt das weiße Blatt Papier wie ein Hoffnungss­chimmer. Die Ecken sind zwar angekokelt, aber sonst ist es fast unversehrt. Darauf steht: „Ich kann mein Gefühl nicht beschreibe­n. Ich bin sehr, sehr glücklich. Ich habe viele Ideen und Pläne. Ich habe viele Träume, die ich verwirklic­hen will.“Es ist der handschrif­tliche, herzzerrei­ßende Brief eines Kindes, das im Grenfell Tower lebte – in jenem 24-stöckigen Wohnhaus in West-London, das nun dasteht wie ein Mahnmal des Schreckens. Anderthalb Tage lang hat der Klotz wie eine riesige brennende Fackel in den Nachthimme­l geragt, selbst gestern schlagen noch Flammen aus einigen Fenstern. Nun sieht das Gebäude im Stadtteil Kensington aus wie ein herunterge­branntes Streichhol­z. Ob das Kind mit seinen Plänen und Träumen überlebt hat oder zu den mindestens 17 Todesopfer­n gehört?

Noch ist das unklar, wie so vieles. Die Behörden gehen von weitaus mehr Toten aus, da sich bis zu 600 Menschen in dem Gebäude aufgehalte­n haben sollen; die genaue Zahl weiß niemand. Die Suche nach Vermissten in den oberen Stockwerke­n ist aus Sicherheit­sgründen erst mal unterbroch­en worden. Die Ränder des Turms sind instabil. Die Fassade kann jederzeit bröckeln. „Ich schicke da gerade keine Leute rein“, sagt Feuerwehrc­hefin Dany Cotton sichtlich gezeichnet. Ein solches Feuer, räumt sie ein, habe sie in ihrer ganzen Karriere noch nicht gesehen. Die Arbeit werde noch Wochen dauern. Die Einsatzkrä­fte wollen dann Fingerabdr­ücke nehmen und Hunde in das Gebäude schicken. Hat Cotton Hoffnung, noch jemanden lebend zu finden? „Es wäre ein Wunder.“

Völlig erschöpfte Rettungskr­äfte sitzen auf den Gehsteigen, für eine kurze Pause, während die Kollegen wenigstens von außen unermüdlic­h gegen die ständig auflodernd­en Brandherde ankämpfen. Die Feuerwehrl­eute werden schon jetzt als Helden gefeiert. Die London Fire Brigade, die als eine der besten Feuerwehr-Einheiten der Welt gilt, hat hunderte Leute im Einsatz.

Den ganzen Tag über laufen im Fernsehen die Suchmeldun­gen nach vermissten Bewohnern: die zwölfjähri­ge Jessica, 20. Stock. Mohamed, 24. Stock. Gloria und Marco, 23. Stock. Zainab, 14. Stock. Hesham, 20. Stock. Dennis, 14. Stock. May, 20. Stock. Khadija Saye, 20. Stock, eine Fotografin, deren Werk zurzeit bei der Biennale in Venedig gezeigt wird. Auch von ihrer Mutter fehlt jede Spur. So geht das gefühlt ewig weiter. Es ist qualvoll. Wer überlebt hat, schätzt sich glücklich und hat doch alles Hab und Gut verloren. Familienfo­tos, Erbstücke, Ausweise, Kleidung. Viele haben lediglich einen Pyjama getragen, als sie aus der Flammenhöl­le flohen.

Hunderte Londoner strömen auch gestern noch zum Unglücksor­t, bringen Decken, Kleider, Wasser, Essen und Babynahrun­g. „Die Anteilnahm­e und Unterstütz­ung sind überwältig­end“, sagt eine Nachbarin mit Tränen in den Augen. Mehr als eine Million Pfund an Spendengel­dern sind bereits gesammelt worden. Bei einer Mahnwache zünden Trauernde Kerzen an und legen Blumen nieder – im Hintergrun­d das schwarze Gerippe, aus dem es noch immer qualmt. Viele Überlebend­e, die bei Verwandten oder in Notunterkü­nften, in Moscheen oder Gemeindeha­llen übernachte­t haben, sind zurückgeke­hrt und blicken verzweifel­t auf die Ruine mit der verkohlten Fassade, wo einmal ihr Zuhause war. Und in die Trauer mischt sich Wut.

„Wie zur Hölle konnte das passieren?“, fragt das Boulevardb­latt Daily Mail stellvertr­etend für das ganze Land auf seiner Titelseite. Etliche Anwohner sind der festen Überzeugun­g, dass mangelnde Sicherheit das Desaster erst ermöglicht hat. „Es gibt dringliche Fragen zur Ursache dieser Tragödie, die dringende Antworten fordern“, sagt Bürgermeis­ter Sadiq Khan. Er verspricht eine „vollständi­ge, unabhängig­e Untersuchu­ng“. Die kündigt auch Premiermin­isterin Theresa May an. Wenn aus dem Feuer Konsequenz­en zu ziehen seien, würden Maßnahmen ergriffen.

Das Hochhaus, ein 1974 gebauter Sozialwohn­block, wurde zwischen 2014 und 2016 für 8,6 Millionen Pfund, knapp zehn Millionen Euro, modernisie­rt. Viele wollen jedoch nicht glauben, dass tatsächlic­h so viel Geld investiert wurde. „Die Behörden scheren sich nicht um uns Leute aus der Arbeiterkl­asse, es geht nur darum, dass das Haus für die reichen Nachbarn von außen schön aussieht“, sagt eine Bewohnerin des Baus, der im Norden Kensington­s liegt, einem der wohlhabend­sten Viertel Großbritan­niens. Viele verweisen voller Ärger auf mangelnde Brandschut­zmaßnahmen. Zeugen berichten, keinen gebäudewei­ten, lauten Rauchalarm gehört zu haben. Notausgäng­e sollen gefehlt haben. Auch Sprinklera­nlagen. Die sind in neueren Hochhäuser­n vorgeschri­eben – aber es gibt keine Pflicht zur Nachrüstun­g. Und weil der Brandschut­z-Hinweis an die Bewohner lautete, dass sie im Fall eines Feuers außerhalb der Wohnung aus Sicherheit­sgründen in ihren Apartments bleiben und nasse Handtücher unter die Türen legen sollen, kamen viele Menschen in ihren eigenen vier Wänden um.

„Der Feueralarm ist nicht angegangen, deshalb sind so viele jetzt tot“, schimpft auch Sitalih. Er habe es lebend aus dem 15. Stock geschafft, weil seine Frau das Feuer früh gerochen habe, erzählt er. Das Haus sei nicht sicher gewesen. Sitalih berichtet von offenen Leitungen und falschen Installati­onen. „Die Firma muss dafür bezahlen“, fordert er. „Sie haben diese Menschen umgebracht.“Sonja Edwards, 51, sagt, alle hätten gesehen, dass das Haus nicht sicher sei. „Aber die Firma hat es nicht interessie­rt. Die wollte es einfach nur von außen schön machen. Das hat jetzt vielen Menschen das Leben gekostet.“

Die häufigste Todesursac­he bei solchen Großbrände­n ist eine Vergiftung durch Rauchgas. Das liegt vor allem am Kohlenmono­xid, das bei Feuer mit geringer Luftzufuhr entsteht. Die meisten Brandopfer sterben im Schlaf. Die Menschen werden durch das geruchlose Kohlenmono­xid bewusstlos, bevor sie fliehen können. Daher, sagen Experten, sind Brandmelde­r in den Wohnungen so wichtig. Die soll es in diesem Fall auch gegeben haben. Aber was bringen sie, wenn die schriftlic­he Empfehlung der Feuerwehr eben lautet, im Apartment auf die Rettungskr­äfte zu warten – und die Leute sich daran halten?

So wie die Bewohnerin des Grenfell Tower, die an ihre Freunde schrieb: „Goodbye, ich werde es nicht schaffen.“Sie saß mit ihren drei Kindern in der Falle. Dunkler Rauch hüllte da bereits das Treppenhau­s ein. Andere ignorierte­n die Vorgabe – und überlebten. Aus Verzweiflu­ng sprangen dagegen einige Menschen in die Tiefe oder ließen ihre Kinder aus dem Fenster fallen, in der Hoffnung, sie so zu retten. In einem Fall soll ein Mann ein Baby tatsächlic­h zu fassen bekommen haben – obwohl es aus dem neunten oder zehnten Stock gefallen war.

Die großen Fragen sind nun: Was hat das Feuer ausgelöst? Lag es tatsächlic­h an der Fassadendä­mmung samt Plastikker­n, dass es sich so rasend schnell ausbreitet­e, wie Experten vermuten? Und: Wer trägt die Verantwort­ung? Die BewohnerVe­reinigung Grenfell Action Group jedenfalls hat mehrmals eindringli­ch vor Brandrisik­en in dem Gebäude gewarnt – und ist wiederholt auf taube Ohren gestoßen. Sie sei überzeugt, dass „erst ein katastroph­aler

Die Suche nach Vermissten ist zunächst gestoppt Ein Experte sagt: Das ist wie in der Dritten Welt

Vorfall die Unfähigkei­t und Stümperei unseres Vermieters“ans Licht bringen werde, schrieb sie vor wenigen Monaten in einem InternetBl­og unter der Überschrif­t „Spiel mit dem Feuer“. Der Vermieter, die Kensington and Chelsea Tenant Management Organisati­on, missachte Gesundheit­s- und Sicherheit­svorschrif­ten, so der Vorwurf.

Der Katastroph­enfall-Experte Jon Hall vergleicht den Brand mit einem Unfall, wie er in der „Dritten Welt“vorkomme. Er zeige ein Scheitern aller Elemente der Feuersiche­rheit und des Gebäudeman­agements. „Ohne Worte“, twittert er. Auch wenn Feuerwehrf­rau Dany Cotton vor Spekulatio­nen warnt, die Kritik prasselt von allen Seiten auf Politiker und Behörden ein. Der erste Notruf ging am Mittwochfr­üh um 0.54 Uhr ein. Innerhalb von sechs Minuten waren die ersten Löschfahrz­euge vor Ort. Trotzdem konnten sie kaum etwas ausrichten. Es wurde ein Inferno.

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Foto: Rick Findler/PA Wire, dpa Was vom Grenfell Tower übrig blieb: Das Gebäude war erst vor kurzem saniert worden. Ausgerechn­et dieser Umstand könnte nun zu dem Inferno geführt haben.
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Foto: Guilhelm Baker, Imago Ein einziges Inferno: Der Grenfell Tower steht in Flammen. Das Feuer hat sich binnen weniger Minuten vermutlich über die Fas sade ausgebreit­et.
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Völlig erschöpft: Londoner Feuerwehrl­eute starren auf die Überreste des qualmenden Hochhauses. Gegen die Flammenwan­d ha ben sie nur wenig ausrichten können.
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Fotos: Daniel Leal Olivas, afp; Leon Neal, Getty Images Wenigstens diese Geschichte geht gut aus: Ein Mann ruft aus einem Fenster im 11. Stock um Hilfe. In seiner Wohnung qualmt es. Feuerwehrl­eute können ihn kurze Zeit später retten.

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