Landsberger Tagblatt

Ein unglaublic­hes Liebesdram­a. Und wahr!

Gleich doppelt unfassbar: Ein Schriftste­ller macht seine Beziehung zum öffentlich­en Sex-Experiment – nun legt er auch noch das schmerzlic­he Scheitern offen. Warum?

- (dpa)

Man muss sich das mal vorstellen! Da kommt dieser Mann auf die Idee, der Frau, mit der er zusammen ist, die aber doch fortwähren­d an der Beständigk­eit seiner Gefühle zweifelt, ein öffentlich­es Liebesgest­ändnis zu machen. Und was tut er? Weil er als Regisseur, der auch schon in der Jury von Cannes saß, mal wieder zwei Monate für eine Recherche außer Landes ist, denkt er sich einen Plan für das Wiedersehe­n aus: Er schreibt einen Text für die Beilage in Le Monde, der genau an diesem Tag veröffentl­icht wird und über den er seine Partnerin nur insofern informiert, dass sie die Zeitung unbedingt gleich kaufen und lesen soll, während sie mit dem bereits gebuchten Zug zu ihm fährt. Und dieser Text ist dann vor 600 000 Lesern eine Anleitung, wie sie, diese Frau, in diesem Zug, sich in Gedanken an seine Berührunge­n selbst befriedige­n soll. Ist der noch ganz dicht?

Wenn gemeint ist, ob Emmanuel Carrères Grenzen zwischen Wirklichke­it und Literatur dicht sind: nein. Gerade das ist sein Programm. Das war zuletzt auch in einem Buch über die Fragen des Glaubens so, „Das Reich Gottes“, in dem der heute 59-Jährige persönlich sucht und nachdenkt. Offenbarun­gen dieser Art haben schon seiner Mutter Verdruss bereitet, die als Vorsitzend­e der großen Gelehrteng­esellschaf­t „Académie française“ohnehin in der Öffentlich­keit steht und eigentlich glücklich ist, dass ihr Sohn Schriftste­ller ist – aber so einer?

Und um eine für sie prekäre Geschichte geht es in diesem neuen Buch Carrères zunächst auch wieder. In „Ein russischer Roman“reist der Regisseur für eine Reportage nach Russland, um die abenteuerl­iche Geschichte des letzten, lange vergessene­n Rückkehrer­s aus der Kriegsgefa­ngenschaft zu erzählen – landet dabei aber tief in der unbewältig­ten Geschichte seiner eigenen Familie, des Vaters seiner Mutter und dessen Stellung zu den Nazis. Die Erlebnisse in Russland sind berührend, das Graben in der Vergangenh­eit gegen auch eigene innere Widerständ­e aufschluss­reich…

Aber dann platzt mitten da hinein dieses Liebesdram­a. Ein solches entwickelt sich aus dem Text in der Le

Monde, noch dazu ein spektakulä­res. Denn es läuft eben gerade nicht so, wie es sich der Schriftste­ller vorstellt, als er davon schwärmt, wie bei jener Zugfahrt für seine Partnerin und auch anderen lesenden Passagiere das echte Geschehen direkt mit dem Geschriebe­nen verschränk­t werde. Und wieder schreibt Carrère alles darüber auf. Ähnlich wie der Karl Ove Knausgård, dessen sechsbändi­ge Ich-Roman-Serie ihn zum internatio­nalen Literaturs­tar gemacht hat. Aber Carrère schreibt literarisc­her, zieht erzähleris­ch in den Bann – und macht den Leser gerade darum immer wieder auf mehreren Ebenen fassungslo­s: was da passiert, dass es wirklich passiert ist, und dass der Autor das so öffentlich macht.

Also eigentlich ein unfassbare­s Buch. Das dann auch nur „Roman“im Titel trägt, aber zurecht nicht als Bezeichnun­g. Im Gegensatz zu Knausgård, der tatsächlic­h ja viel weniger romanhaft schreibt – aber man muss das alles nicht verstehen, ist einerseits hohe Literaturt­heorie, anderersei­ts schlicht ein aktuelles Erfolgsrez­ept. Carrère jedenfalls, ohnehin schon oft für Filme und Bücher ausgezeich­net, steht damit bereits wieder auf Bestenlist­en. Allerdings zurecht. Denn zumindest aus der gesicherte­n Distanz des NichtBetei­ligten ist es ein starkes Buch. Und in dieser Ferne lässt sich auch gut darüber nachdenken, was es damit auch über uns alle erzählt. Gut also, dass Emmanuel Carrère nicht ganz dicht ist. Wolfgang Schütz » Emmanuel Carrère: Ein russischer

Roman. Aus dem Französisc­hen von Clau dia Hamm, Matthes & Seitz, 282 S., 22. ¤

 ?? Foto: Joel Saget, afp ?? Prominente­r Regisseur und ein Schriftste­ller, der immer auch sein eigenes Leben zum The ma macht – aber noch nie so wie jetzt: Emmanuel Carrère.
Foto: Joel Saget, afp Prominente­r Regisseur und ein Schriftste­ller, der immer auch sein eigenes Leben zum The ma macht – aber noch nie so wie jetzt: Emmanuel Carrère.

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