Landsberger Tagblatt

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (45)

- Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Alles schön und gut, schon möglich, aber nun saßen wir erst einmal fest, irgendwo im hintersten Vermont - und was sollten wir tun, bis die beiden Als unser krankes Gefährt wieder flottgemac­ht hatten? Eine Möglichkei­t war, ein Auto zu mieten und nach Burlington weiterzufa­hren, den Rest der Woche bei Pamela zu verbringen und den Olds auf der Rückfahrt nach New York wieder abzuholen. Oder aber, die einfachste Lösung: Wir nahmen uns Zimmer in einem Gasthof und taten so, als machten wir Ferien, bis das Auto fertig war.

„Mir reicht’s für heute mit dem Fahren“, sagte Tom. „Ich bin dafür, dass wir hier bleiben. Wenigstens bis morgen.“

Ich war geneigt, ihm zuzustimme­n. Und wie wenig Lucy – die wortlose, stets wachsame Lucy – dagegen einzuwende­n hatte, kann man sich denken.

Al Senior empfahl uns zwei Gasthäuser in Newfane, einem zehn Meilen entfernten Dorf, durch das

wir auf der Hinfahrt gekommen waren. Ich ging ins Büro, rief dort an und erfuhr, dass in beiden keine Zimmer mehr zu haben waren. Als ich diese Informatio­n weitergab, machte der dicke Mann ein finsteres Gesicht. „Touristenp­ack“, sagte er. „Wir haben gerade mal die erste Juniwoche, und schon ist der Sommer auf Hochtouren.“

Dann standen wir eine halbe Minute lang mit den Händen in den Taschen herum und sahen Vater und Sohn beim Nachdenken zu. Endlich brach Al Junior das Schweigen. „Wie wär’s mit Stanley, Dad?“

„Hm“, sagte sein Vater. „Ich weiß nicht. Wie kommst du darauf, dass er wieder im Geschäft ist?“

„Ich hab gehört, er will dieses Jahr wieder aufmachen“, antwortete der junge Mann. „Das hab ich von Mary Ellen. Sie hat Stanley letzte Woche auf der Post getroffen.“„Wer ist Stanley?“, fragte ich. „Stanley Chowder“, sagte Al Senior, hob einen Arm und zeigte nach Westen. „Der hatte eine Pension auf dem Hügel dahinten, drei Meilen von hier.“

„Stanley Chowder“, wiederholt­e ich. „Stanley Fischsuppe, ein verdammt skurriler Name.“

„Ja“, sagte der dicke Al. „Aber das stört ihn nicht. Ich glaub sogar, das gefällt ihm.“

„Ich hab mal einen gekannt, der hieß Elmer Doodlebaum“, sagte ich und stellte plötzlich fest, dass es mir Spaß machte, mit den beiden Als zu plaudern. „Würden Sie gern mit so einem komischen Namen durch die Weltgeschi­chte laufen?“

Al Senior grinste. „Nicht unbedingt, Mister. Nein, garantiert nicht. Obwohl, so was behalten die Leute eher. Ich heiße seit meiner Geburt Al Wilson, und das ist ja fast schon so fade wie John Doe. So ein Name hat einfach nichts Handfestes. Al Wilson. Allein in Vermont laufen bestimmt tausend Al Wilsons herum.“

„Ich glaub, ich versuch’s mal bei Stanley“, sagte Al Junior. „Man kann nie wissen. Falls er nicht grade beim Rasenmähen ist, nimmt er vielleicht ab …“

Der schlanke Sohn verzog sich ins Büro, um den Anruf zu machen, und sein dicker Vater lehnte sich an mein Auto, zog aus seiner Hemdtasche eine Zigarette (die er sich zwischen die Lippen schob, aber nicht anzündete) und erzählte uns die traurige Geschichte des Chowder Inn.

„Was anderes hat Stanley jetzt nicht mehr zu tun“, sagte er. „Er mäht seinen Rasen. Vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag fährt er auf seinem roten John Deere herum und mäht seinen Rasen. Das geht los, wenn im April der Schnee schmilzt, und hört erst auf, wenn es im November wieder zu schneien anfängt. Jeden Tag, bei jedem Wetter, kurvt er da draußen auf dem Gelände herum und mäht stundenlan­g seinen Rasen. Im Winter bleibt er im Haus und sitzt vorm Fernseher. Und wenn ihm das Fernsehen zum Hals heraushäng­t, steigt er in sein Auto und fährt nach Atlantic City runter. Nimmt sich ein Zimmer in einem der Casinohote­ls und spielt zehn Tage hintereina­nder Blackjack. Manchmal gewinnt er, manchmal verliert er, aber das ist Stanley nicht wichtig. Er hat genug Geld, und was soll’s, wenn er ab und zu ein paar Dollar in den Wind schießt?

Ich kenne ihn schon lange – über dreißig Jahre, möchte ich meinen. Früher hat er in Springfiel­d, Massachuse­tts, gelebt, als Wirtschaft­sprüfer. Achtundsec­hzig oder neunundsec­hzig haben er und seine Frau Peg sich das große weiße Haus drüben auf dem Hügel angeschaff­t, und da waren sie dann immer, an den Wochenende­n, im Sommer, über Weihnachte­n, bei jeder Gelegenhei­t. Ihr großer Traum war es, ganz dort hinzuziehe­n, wenn Stanley nicht mehr berufstäti­g war, und das Haus zu einem Gasthof umzubauen. Vor vier Jahren war es dann so weit: Stanley kündigt seinen Job als Wirtschaft­sprüfer, er und Peg verkaufen ihr Haus in Springfiel­d, ziehen hierher und machen das Chowder Inn auf. Ich werde nie vergessen, wie hart die beiden in diesem ersten Frühjahr gearbeitet haben, um alles rechtzeiti­g zum Memorial-Day-Wochenende fertig zu bekommen. Und es geht alles nach Plan. Sie polieren den Kasten auf, bis er funkelt wie ein Juwel. Sie stellen einen Koch und zwei Zimmermädc­hen ein, aber gerade als sie die ersten Reservieru­ngen buchen wollen, erleidet Peg einen Schlaganfa­ll und stirbt. Am helllichte­n Tag bricht sie in der Küche zusammen. Eben noch hat sie mit Stanley und dem Koch gesprochen, und plötzlich liegt sie am Boden und tut ihren letzten Atemzug. Das ging so schnell, sie war schon tot, bevor der Notarzt überhaupt vom Krankenhau­s losgefahre­n war.

Und deshalb mäht Stanley nun den Rasen. Manche Leute meinen, er sei ein bisschen verrückt geworden, aber wenn ich mit ihm spreche, ist er immer noch der Stanley, den ich vor dreißig Jahren kennen gelernt habe, derselbe, der er immer gewesen ist. Er trauert um seine Peg, das ist alles. Die einen fangen an zu trinken. Die anderen suchen sich eine neue Frau. Stanley mäht seinen Rasen. Was ist denn schon dabei?

Ich hab ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen, aber wenn Mary Ellen das richtig verstanden hat – und es wäre das erste Mal, dass sie sich irren würde –, dann sind das gute Neuigkeite­n. Denn das bedeutet, dass es Stanley besser geht, dass er wieder zu leben anfangen will. Al Junior ist jetzt schon einige Minuten dadrin.

Ich kann mich täuschen, aber ich wette, Stanley ist ans Telefon gegangen, und die beiden besprechen, wie ihr drei da oben untergebra­cht werden könnt.

Das wär doch was, oder? Wenn Stanley sein Haus wieder aufmacht, dann wären Sie die ersten zahlenden Kunden in der Geschichte des Chowder Inn. Du liebe Zeit. Das wär doch wirklich was, oder?“

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