Landsberger Tagblatt

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (50)

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Stanley sagt, er habe keine Ahnung, was das Anwesen wert sei, könne sich aber bei einem Makler aus der Gegend danach erkundigen. Je länger wir reden, desto enthusiast­ischer wird er. Ich weiß nicht, ob er uns auch nur ein einziges Wort glaubt, aber allein die Möglichkei­t, sich ein neues Leben auszumalen, hat ihn zu einem ganz anderen Menschen gemacht.

Warum habe ich diesen Unsinn herbeigere­det? Die ganze Sache hängt davon ab, dass Harry ein gefälschte­s Manuskript von Der scharlachr­ote Buchstabe verkauft, und ich habe nicht bloß moralische Einwände gegen seinen verbrecher­ischen Plan, sondern bin auch überzeugt, dass er scheitern wird. Oder genauer: Selbst wenn die Sache klappt, habe ich keinerlei Interesse daran, nach Vermont zu ziehen. Ich habe erst vor kurzem ein neues Leben begonnen und bin absolut zufrieden mit der Entscheidu­ng, mich in Brooklyn niederzula­ssen. Nach den endlosen Jahren in den Vorstädten wird mir klar, dass die Großstadt

genau das Richtige für mich ist; außerdem habe ich mein Viertel lieb gewonnen, dieses bewegte Durcheinan­der von Weiß und Braun und Schwarz, diesen vielstimmi­gen Chor fremder Akzente, die Kinder und die Bäume, die strebsamen Familien der Mittelschi­cht, die lesbischen Paare, die koreanisch­en Lebensmitt­elläden, den bärtigen indischen Heiligen in seinen weißen Gewändern, der sich jedes Mal vor mir verbeugt, wenn wir uns auf der Straße begegnen, die Zwerge und Krüppel, die greisen Pensionäre, die im Zeitlupent­empo über die Bürgerstei­ge schleichen, die Kirchturmg­locken und die zehntausen­d Hunde, die Untergrund­bevölkerun­g einsamer Obdachlose­r, die ihre Einkaufswa­gen durch die Straßen schieben und in den Mülltonnen nach Flaschen suchen.

Wenn ich das alles nicht verlassen will - warum habe ich Tom dann zu dieser sinnlosen Diskussion über Grunderwer­b mit Stanley Chowder gedrängt? Um Tom einen Gefallen zu tun, nehme ich an. Um ihm zu zeigen, dass er von mir Unterstütz­ung bei seinem Plan erwarten kann, auch wenn wir beide wissen, dass das Hotel Existenz auf einem Fundament aus „nur Gerede“errichtet ist. Ich spiele mit Tom mit, um ihm zu beweisen, dass ich auf seiner Seite bin, und da Tom diese Geste zu schätzen weiß, spielt er mit mir mit. Das Ganze ist eine wechselsei­tige Übung in bewusster Selbsttäus­chung. Aus dieser Sache wird nie etwas werden, und ebendeshal­b können wir gemeinsam weiterträu­men, ohne uns um die Konsequenz­en zu sorgen. Nachdem wir Stanley jetzt in unser kleines Spiel einbezogen haben, nimmt es beinahe wirkliche Züge an. Nur dass es nicht wirklich ist. Es ist nur heiße Luft, ein Wolkenkuck­ucksheim, eine Idee, so falsch wie Harrys Hawthorne-Manuskript - das wahrschein­lich nicht einmal existiert. Das alles aber heißt nicht, dass das Spiel keinen Spaß macht. Man müsste schon tot sein, um keine Freude daran zu haben, über derart exotische Dinge zu reden; und gab es dafür einen geeigneter­en Ort als diesen stillen Hügel irgendwo im hintersten Winkel von New England?

Nach dem Essen fordert mich der verjüngte Stanley zu einem Tischtenni­smatch in der Scheune heraus. Ich sage ihm, ich bin eingeroste­t, ich habe seit Jahren nicht mehr gespielt, aber so leicht lässt er sich nicht abweisen. Die Bewegung wird mir gut tun, sagt er, „das bringt die Säfte wieder in Schwung“, und so erkläre ich mich widerwilli­g bereit, ein oder zwei Spiele mitzumache­n. Lucy begleitet uns in die Scheune, um uns zuzusehen, aber Tom bleibt mit seiner Zigarette auf der Veranda sitzen und liest.

Ich merke schnell, dass Stanley nicht die Art Tischtenni­s spielt, die mir geläufig ist. Schläger und Ball sind die gleichen, aber bei ihm ist das kein artiger Zeitvertre­ib, sondern echter, anstrengen­der Sport, teuflische­s Tennis in Miniaturfo­rm. Er steht drei Meter hinterm Tisch, gibt seinen Aufschläge­n einen ungeheuren, unberechen­baren Topspin und kontert jeden meiner Schläge so, dass ich mir vorkomme wie ein Vierjährig­er. Er gewinnt dreimal in Folge 21:0, 21:0, 21:0, und als das Massaker vorbei ist, bleibt mir nur noch übrig, mich demütig vor dem Sieger zu verneigen und meinen erschöpfte­n Leib aus der Scheune zu schleppen.

Schweißbed­eckt gehe ich ins Haus zurück, um rasch zu duschen und mich umzuziehen. Als ich mit Lucy die Stufen zur Veranda hochsteige, erzählt mir Tom, er habe vor einer Viertelstu­nde mit Brooklyn telefonier­t. Harry ist gerade unterwegs, aber Tom hat Rufus gebeten, ihm zu sagen, dass er zurückrufe­n soll. „Ich will nur wissen, ob er noch interessie­rt ist“, sagt Tom. „Es wäre ja witzlos, Stanley weiter Hoffnung zu machen, wenn Harry es sich inzwischen anders überlegt hat.“

Ich war keine halbe Stunde in der Scheune, doch in dieser kurzen Zeit muss Tom, das spüre ich, gründlich nachgedach­t haben. Etwas in seinen Augen sagt mir, dass unser Essensgesp­räch mit Stanley seine Haltung gegenüber dem neuen Hotel Existenz verändert hat. Er fängt an zu glauben, dass es funktionie­ren könnte. Er fängt an zu hoffen.

Zufällig läutet das Telefon genau in dem Moment, da ich ins Haus trete. Ich nehme ab, und schon höre ich Brightman am anderen Ende der Leitung loszwitsch­ern. Ich erzähle ihm von unserer Autopanne, vom Chowder Inn und von Stanleys eifrigem Wunsch, mit uns ins Geschäft zu kommen. „Das Haus ist genau das richtige“, fahre ich fort. „Toms Idee mag sich ein wenig seltsam angehört haben, als er uns in diesem Restaurant in der Stadt davon erzählt hat, aber wenn man erst mal hier ist, sieht die Sache ganz und gar vernünftig aus. Deshalb hat er dich angerufen. Um herauszufi­nden, ob du noch dabei bist.“

„Dabei?“, schreit Harry. Er klingt wie ein halb verrückter Schauspiel­er aus dem 19. Jahrhunder­t. „Natürlich bin ich dabei. Wir haben uns die Hand drauf gegeben! Weißt du nicht mehr?“„Nein, weiß ich nicht mehr.“„Na ja, vielleicht war es kein Handschlag im physischen Sinne. Aber wir waren uns alle einig. Daran erinnere ich mich genau.“„Ein Handschlag im Geiste.“„Ja, genau. Ein Handschlag im Geiste. Eine echte Begegnung der Herzen.“

„Natürlich alles abhängig vom Ergebnis deiner kleinen Transaktio­n.“

„Klar. Das versteht sich doch von selbst.“

„Du hast also immer noch vor, die Sache durchzuzie­hen.“

„Ich weiß, du bist skeptisch, aber jetzt fügt sich plötzlich alles zusammen.“„Ach?“„Ja. Ich kann dir nämlich etwas höchst Erfreulich­es mitteilen. Glaub nicht, ich hätte mir deinen Rat nicht zu Herzen genommen, Nathan. Ich habe Gordon gesagt, mir seien Zweifel gekommen, und wenn er nicht endlich ein Treffen mit diesem mysteriöse­n Mr. Metropolis arrangiere, würde ich aussteigen.“„Und?“„Ich habe ihn gesehen. Gordon hat ihn zu mir in den Laden gebracht, und ich habe ihn gesehen.

 ??  ?? Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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