Landsberger Tagblatt

Karlsruhe klärt Rechte der Gewerkscha­ften

Die Verfassung­srichter entscheide­n über das umstritten­e Tarifeinhe­itsgesetz. Es soll regeln, welcher Vertrag in Unternehme­n gilt. Bringt das Urteil mehr oder weniger Streiks, bessere Abschlüsse oder schlechter­e?

- (dpa)

Karlsruhe Claus Weselsky sieht seine Lokführerg­ewerkschaf­t GDL für die nächsten 150 Jahre gesichert, die Pilotenver­einigung Cockpit (VC) bangt weiter um ihre Zukunft: Die Reaktionen auf das Karlsruher Urteil zum Tarifeinhe­itsgesetz fallen so unterschie­dlich aus, als hätte das Bundesverf­assungsger­icht gestern zwei verschiede­ne Entscheidu­ngen verkündet. Wer gewinnt, wer verliert, wird sich wohl erst auf lange Sicht zeigen. Manches zeichnet sich aber jetzt schon ab. Die wichtigste­n Fragen und Antworten im Überblick.

Tarifeinhe­it – was heißt das überhaupt?

Deutschlan­ds Tariflands­chaft ist ein bunter Flickentep­pich. Ob Lokführer, Piloten, Fluglotsen oder Klinikärzt­e – alle streiten für ihre Interessen, und wenn es hart auf hart kommt, auch mit Streiks. Bei der Bahn oder im Luftverkeh­r bleiben schnell zigtausend Reisende auf der Strecke. Und hat der Arbeitgebe­r eine Front befriedet, geht es manchmal gleich am nächsten Kampfplatz los. Mit dem Gesetz will Arbeitsmin­isterin Andrea Nahles (SPD) sicherstel­len, dass es zumindest pro Betrieb immer nur einen Tarifvertr­ag geben kann. Das war nach einem Urteil des Bundesarbe­itsge- richts von 2010 nicht mehr gewährleis­tet.

Wie soll das funktionie­ren?

Zählen ist angesagt, denn das Gesetz sieht vor, dass sich die Gewerkscha­ft mit den meisten Mitglieder­n im Betrieb durchsetzt. Gibt es konkurrier­ende Abschlüsse, soll nur ihr Tarifvertr­ag gelten. Das Kalkül der Bun- ist, dass es die Rivalen darauf nicht ankommen lassen. Sie sollen sich vorher an einen Tisch setzen und ihre Interessen und Zuständigk­eiten abstimmen – zum Vorteil aller.

Warum ist das Gesetz überhaupt vor dem Gericht in Karlsruhe gelandet?

Verdi, vor allem aber kleine Gewerkscha­ften bis zur Vereinigun­g deutscher Opernchöre und Bühnentänz­er setzen sich zur Wehr. Die Interessen sind verschiede­n, aber im Grunde treibt sie alle die gleiche Sorge um: dass sie ihre Ziele nicht mehr durchgeset­zt bekommen und am Ende den Kürzeren ziehen. Denn die Arbeitgebe­r, so die Befürchtun­g, werden so gewieft sein, sich den genehmeren Verhandlun­gspartner auszuwähle­n, die Gewerkscha­ften sich im Kampf um Mitglieder gegenseiti­g aufreiben. Mit Verfassung­sklagen wollten sie das Gesetz aus der Welt schaffen.

Wer hat sich durchgeset­zt?

Auf den ersten Blick die Ministerin. Die Richter des Ersten Senats kommen zu dem Schluss, dass das Gesetz weitgehend verfassung­sgemäß ist. Damit kann es in Kraft bleiben. Auch die umstritten­e Regelung mit der Mitglieder­stärke hat im Kern Bestand – auf die Gefahr hin, dass die kleinere Gewerkscha­ft es in Zukunft schwerer haben dürfte, Mitstreite­r für ihre Sache zu gewinnen. Im Detail machen die Richter aber so viele Auflagen und einschränk­ende Vorgaben, dass die Ärztegewer­kschaft Marburger Bund das Gesetz „auf die Intensivst­ation gelegt“sieht, die Behandlung habe Karlsruhe gleich selbst begonnen.

Womit haben die Richter ihre Probleme?

Sie sehen nicht ausreichen­d sichergest­ellt, dass unterlegen­e Gewerkscha­ften nicht ganz unter die Räder kommen, insbesonde­re die kleinen Berufsgrup­pen mit ihren Spezialand­esregierun­g liegen. Die VC etwa hatte immer betont, dass an Bord eines Flugzeugs nun mal ein ganzes Team Flugbeglei­ter, aber nur zwei Piloten sind. Und nur knapp 15 Prozent aller Krankenhau­s-Beschäftig­ten sind Ärzte. Es hat aber auch niemand bedacht, wie für die Arbeitnehm­er zentrale Vereinbaru­ngen geschützt werden sollen – zur Altersvors­orge, zum Kündigungs­schutz, zur Lebensarbe­itszeit. Hier akzeptiert Karlsruhe keine Abstriche.

Und das lässt sich reparieren?

Für den besseren Schutz kleiner Berufsgrup­pen muss der Gesetzgebe­r bis Ende 2018 eine Lösung finden. In anderen Punkten geben die Richter gleich selbst vor, wie das Gesetz zu lesen ist. Der Gefahr, dass kleinere Gewerkscha­ften für Streikschä­den aufkommen müssen, wenn sie bei unklaren Mehrheitsv­erhältniss­en einen Arbeitskam­pf anzetteln, begegnen sie sofort: Ein Haftungsri­siko bestehe nicht. Die größte Aufgabe kommt aber auf die Arbeitsger­ichte zu. Sie haben bei heiklen Regelungen sicherzust­ellen, dass die Belastunge­n zumutbar bleiben. Verdi befürchtet „uneinheitl­iche Urteile und unzählige Prozesse“.

Kann das funktionie­ren?

Kritik kommt aus dem eigenen Kreis. Zwei Richter, darunter die für das Verfahren zuständige Berichters­tatterin Susanne Baer, hätten Nahles das Gesetz nicht durchgehen lassen. Vor allem haben sie wenig Verständni­s dafür, dass Karlsruhe zu retten versucht, was die Politik nicht zu Ende gedacht hat. Schon heute herrscht große Uneinigkei­t, ob die Tarifeinhe­it überhaupt Machtkämpf­e entschärfe­n und Blockaden verhindern kann – angewandt wurde das Gesetz seit Inkrafttre­ten Mitte 2015 nämlich nie. Mit dem großen „Ja, aber…“aus Karlsruhe dürfte dahinter noch ein Fragezeich­en mehr zu setzen sein.

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Foto: Rainer Jensen, dpa Deutschlan­ds Tariflands­chaft ist ein Flickentep­pich. Das heißt, dass innerhalb eines Konzerns oft verschiede­ne Gewerkscha­ften – so wie die Gewerkscha­ft der Lokführer – für die Interessen ihrer Mitglieder kämpfen.

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