Landsberger Tagblatt

Mit Goethe im Schnee Mit Antunes im Mietshaus

Adolf Muschg fantasiert sich frei Typisches vom großen Erzähler Portugals

- (go) (pemo)

Die Reise war hochgefähr­lich. Wäre sie nicht gut ausgegange­n, hielten wir heute nicht den besten Teil der Weimarer Klassik in Händen. Goethe war erst 30, als er mit seinem Dienstherr­n, dem acht Jahre jüngeren Landesfürs­ten Carl August, den über 2400 m hohen, tief verschneit­en Furkapass am Gotthardma­ssiv überquerte. Das war am 12. November 1779, dem sogenannte­n „Weißen Freitag“. Adolf Muschg liest diesen Tag, der seiner Erzählung den Titel gibt, als „Prüfung des Lebens“. Der 82-jährige, krebskrank­e Autor kreuzt seinen Lebensund Denkweg auf vielfältig­e Weise mit Goethes zweiter Schweizer Reise, in kurzen Kapiteln, in Goethe-Betrachtun­gen, Kindheitse­rinnerunge­n und im Blick auf die eigene kleine Schreibkla­use in Männedorf bei Zürich. Muschg arbeitet versiert mit Spiegelung­en, bricht darin Reales und Literarisc­hes, sein Leben und das Goethes. Das schließt (gelehrte) Manierisme­n nicht aus, auch nicht zähflüssig­e Männerfant­asien, nimmt aber den Leser ein für einen überrasche­nd offenen und zugleich gelassenen Schriftste­ller. Muschg lässt sich von Goethe gleichsam aus seiner Schreibhöh­le auf die Schicksals­höhen emporziehe­n. Hier wie dort steht das Leben auf dem Spiel, am Rand des Unvorherse­hbaren. Einen Trost hält diese Erzählung bereit: Es ist die Kunst, die der schwindend­en Zeit entgegentr­itt. Für Muschg heißt das: Der Tod tritt ein, wenn man nicht mehr schreiben und mit Goethe auf lebensrett­ende Weise fantasiere­n kann.

C.H. Beck, 251 S., 22,95 Euro

Jeden Herbst wird er als einer der Kandidaten für den Nobelpreis gehandelt. Der 74-jährige portugiesi­sche Schriftste­ller António Lobo Antunes hat nun seinen 25. Roman vorgelegt, der sich wie eine Summe seines bisherigen OEuvres liest. Wieder stehen das Portugal der kleinen Leute, deren existenzie­lle Sorgen und die unaufgearb­eitete Zeit der Salazar-Diktatur im Zentrum. Einsam und ziemlich unglücklic­h sind sämtliche Bewohner eines Lissaboner Mietshause­s mit acht Parteien, das im neuen Roman als Spiegelbil­d für die portugiesi­sche Mittelschi­cht fungiert. Der soziale Abstieg und handfeste Probleme des Älterwerde­ns prägen den Alltag der Bewohner. Sie kämpfen fortwähren­d gegen Verluste materielle­r Natur und wachsende Vereinsamu­ng, und damit einhergehe­nd findet eine ständige Auseinande­rsetzung mit der Vergangenh­eit statt.

„Ich gehe wie ein Haus in Flammen“ist ganz sicher nicht das kompositor­isch gelungenst­e Werk des Autors und auch kein ausdrückli­ches Empfehlung­sschreiben an das Stockholme­r Nobelpreis­komitee. Aber es ist doch ein für diesen großen Erzähler typisches Buch – leicht pathetisch­e Prosa aus der Seele Portugals. Fado und Saudade (dt.: Weltschmer­z) zwischen zwei Buchdeckel­n. Tieftrauri­g, aber emotional authentisc­h.

Übersetzt von M. Meyer Minne mann. Luchter hand, 444 S., 24 Euro

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Adolf Muschg: Der weiße Freitag
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António Lobo Antunes: Ich gehe wie ein Haus in Flammen

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